Nyon 09: The Sound of Insects – Record of a Mummy

TheSoundofInsects

Peter Liechti (Hans im Glück) gehört beharrlich zu den eigenwilligsten Schweizer Filmemachern. Seine stets sehr persönlich gehaltenen Filme sind zwar verankert im Dokumentarischen, entwickeln aber meist einen musikalischen Gedankenfluss. The Sound of Insects, der gestern am Dokumentarfilmfestival Visions du réel in Nyon seine Uraufführung hatte, gehört zu Liechti bisher perfektesten Filmen. Mit seinem Stab von zuverlässigen, eben so beharrlichen und im Tüfteln verankerten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat er um einen Text des Japaners Shamada Masahiko ein Gesamtkunstwerk errichtet. Im Kern steht das Tagebuch eines Selbstmörders, eines Mannes, der sich in den Wald zurückgezogen hat, um sich dort zu Tode zu hungern.

Der Mann, dessen mumifizierte Leiche in einer aus Plastikplachen geformten kleinen Hütte gefunden wurde, hatte sein Tagebuch im Schoss liegen, in das er Tag für Tag die Veränderungen seines Körpers und seines Geistes notierte. Unerwartet lange dauerte offenbar der Prozess des Verhungerns, über sechzig Tage begleitet der Film den Text mit manchmal hypnotischen, manchmal suggestiven, meist meditativen Bildern und einer durchkomponierten Soundspur aus Geräuschen und Musik.

Liechti hat seinen Film auf fünf Ebenen organisiert. Der Prolog wirkt wie der Beginn eines Fernsehkrimis, ein paar Polizeiautos stehen am Waldrand, eine Bahre wird aufgeladen. Dann gibt es den Blick von innen auf die Plastikplane des improvisierten Sterbehospizes: Opak, belegt und berieselt mit Tannnadeln, Blättchen, Regentropfen. Dazu die Waldbilder, grossartig, tiefenscharf, geheimnisvoll und bewegt-statisch. Zwei weitere Ebenen bestehen aus angedeuteten Gedankenbildern, Visionen, Archetypen, sowie einer Art Erinnerungsstrom aus dem urbanen Lebensraum des Mannes.

Wie Peter Liechti nach der Premiere erklärt hat, war seine grösste Sorge die Frage, ob er dem suggestiven Text überhaupt noch etwas beifügen könne. Kennengelernt hat er ihn notabene über eine musikalische Lesung auf CD, also auch schon eine zusätzliche „Dramatisierung“. Nun könnte man sagen, Liechti hat den umgekehrten Weg gesucht, die Entdramatisierung, und das ist mehr als gelungen.

The Sound of Insects ist kein Dokumentarfilm, sondern ein mit gesuchten, gemachten dokumentarischen Bildern gebautes Gesamtkunstwerk. Aber der Film passt wunderbar zum programmatischen Anspruch dieses Festivals, er ist die filmische Verkörperung einer Vision des Realen. Ob das im Kino eine Chance hat, wage ich zu bezweifeln. Das ist ein Film wie ein modernes Konzertstück, ein Kustwerk für ein aufmerksames, williges Publikum.

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