Cannes 11: WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN von Lynne Ramsay

Tilda Swinton und John C. Reilly in 'We need to talk about Kevin '
Tilda Swinton und John C. Reilly in ‚We need to talk about Kevin ‚

Wie fühlt sich wohl die Mutter von Michael Myers? Wahrscheinlich kaum schlimmer als die hier von Tilda Swinton gespielte Eva, als ihr langsam klar wird, was für ein Satansbraten ihr Sohn Kevin wirklich ist.

Allerdings tritt Lynne Ramsay nie aus dem Dunstkreis des Realen hinaus mit dieser Geschichte. Stärker noch als vor vier Jahren George Ratliff mit Joshua sucht Ramsay den Horror von The Omen oder Rosemary’s Baby in der Realität – wo er letztlich ja auch herkommt. Das liesse sich kaum schlagender, oder doch eher: brüllender – zeigen, als in einer Szene, in der die verzweifelte Eva ihr dauerschreiendes Baby mit dem Kinderwagen in den Lärmkreis eines Presslufthammers schiebt, um für ein paar Sekunden mit sichtlicher Erleichterung zu Ruhe zu kommen.

Eva hält ihr Kind zunächst für autistisch, später vor allem für manipulativ und bösartig. Und Ramsays Film bleibt konsequent bei ihrer Perspektive, so dass ich als Zuschauer sehr schnell überzeugt bin davon, dass dieser Kevin ein Sohn aus der Hölle sein muss.

Wer sich nun aber einen Film aus der Gattung der Kulleraugenkillerkinderfilme vorstellt, liegt völlig schief.

Lynne Ramsay hat Ratcatcher gemacht und Morvern Callar, sie gilt schon seit etlichen Jahren als eine der grossen Nachwuchshoffnungen des britischen Kinos, und schon mit der ersten Einstellung macht sie klar, dass hier die Bilder bewegen sollen. Da bauscht sich ein halbdurchsichtiger Vorhang ominös in ein grosses Zimmer. Da badet eine glückliche junge Eva im Blut der Tomaten an einer spanischen Fiesta, und diese blutrote Farbe wird den Film nicht mehr verlassen.

Später tritt die Frau aus einem mit roter Farbe beschmierten Haus, zu ihrem rot verschmierten gelben Mercedes. In einer anderen Einstellung steht sie im Supermarkt mit dem Rücken zu einem ganzen Gestell von Campell’s Tomatensuppe in Dosen und fast schon ist man geneigt, dem Film einen Sinn für Humor zu unterstellen.

We need to talk about Kevin (4)

We need to talk about Kevin spielt in den USA, bemüht sich aber immer wieder um die bildgestalterische Originalität, wie sie seinerzeit Danny Boyle mit Trainspotting demonstriert hatte.

Dabei schiesst Ramsay hin und wieder über das Ziel hinaus, der Symbolismus wird bleiern. Wenn sich beim Bogenschiessen die Zielscheibe in Kevins Pupillen spiegelt und die Kamera maximal auf die Spiegelung zoomt, dann ist das mehr als aufdringlich.

Die Alltagsmechanik im Leben der Familie ist geprägt von Unsicherheit und schlechtem Gewissen bei der Mutter, Unverständnis beim Vater und verächtlicher Arroganz beim Sohn.

We need to talk about Kevin (1)

Aufgrund vieler andeutender Rückblenden wird bald einmal klar, dass sich der Film eher im Territorium von Gus van Sants Elephant bewegt, als im Gefilde des Psychothrillers.

Die stärksten Momente sind jene, in denen die Mutter den Sohn im Gefängnis besucht und sie sich wortlos gegenübersitzen. Vielleicht gerade darum, weil in diesen Szenen auch die Bilder ruhiger werden. Wenn Kevin ausdruckslos einen Fingernagelrand nach dem anderen mit den Zähnen abbeisst und die zehn kleinen Hornsicheln in einer Reihe vor sich auf den Tisch legt, ist das endlich ein Bild, dass nicht voraufgeladen wurde mit anderen Bildern, endlich eine Einstellung, die für sich selber genommen seltsam und befremdend wirken darf.

We need to talk about Kevin ist ein Film, der sich von der ersten Sekunde an unglaublich Mühe gibt, ganz ähnlich wie seine Protagonistin Eva, die alles versucht, um ihrem seltsamen Baby eine normale Entwicklung zu ermöglichen. Anders als Eva hat Lynne Ramsay aber doch Erfolg mit ihren Anstrengungen. Das ist ein Film mit einer Wucht und einer Kraft, die oft unangenehm wirken, aber unbestreitbar beeindrucken.

Lynne Ramsay
Lynne Ramsay

Eine Antwort auf „Cannes 11: WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN von Lynne Ramsay“

Kommentar verfassen