Cannes 12: POST TENEBRAS LUX von Carlos Reygadas

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Das ist vorläufig – und wohl noch für lange Zeit – der bizarrste Film, den ich je gesehen habe. Und zugleich eines der anregendsten und fruchtbarsten Leinwanderlebnisse überhaupt. Wahrscheinlich wird sich kein Filmverleiher in der Schweiz trauen, diesen Film ins Kino zu bringen, weil sich ein durchschnittlicher Kinogänger wohl eher den Kopf abreissen würde, als sich diesen eben so schönen wie verstörenden, so bekannten wie fremdartigen Bildern auszusetzen (Nachtrag vom 30. Mai: Look Now! hält Reygadas die Treue. Die Schweizer Verleiherin bringt auch diesen Film ins Kino).

Während Reygadas‘ Meisterwerk Stellet Licht von 2008 auf der Leinwand aus der Dunkelheit heraus kam, mit einem Sonnenaufgang und allen Naturgeräuschen in Echtzeit, mach Post Tenebras Lux das Umgekehrte. Wir sehen ein glücklich umher rennendes ganz kleines Mädchen auf einer Weide. Sie jauchzt den Kühen nach, die vorbei laufen, den Pferden, die durch den Hintergrund galoppieren, den Hunden, welche die Kühe und die Pferde jagen: „Vaccas … perros …“ und während sie um Hunde und Pfützen herum tappst, fällt langsam die Dämmerung, die Leinwand wird schwarz.

Im nächsten Bild sind wir in einer nächtlichen Wohnung. Die Eingangstür geht auf und der Teufel kommt herein, eine neonrot leuchtende Gestalt mit Ziegenkopf und Hörnern, einem Schwanz und Hufen, vorsichtig, leise, und mit einem Werkzeugkoffer in der Hand. Die Gestalt blickt sich um, alle in der Wohnung scheinen zu schlafen. Aus dem Kinderzimmer heraus allerdings schaut ihn ein Junge an, aufmerksam, reglos.

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Morgen. Ein Mann und eine schöne Frau schlafen nackt im Bett. Ein Kind beginnt im Nebenzimmer zu weinen. Die Frau steht auf, zieht einen Morgenmantel über und geht ins Kinderzimmer. Es ist das kleine Mädchen vom Anfang, sie nimmt es mit ins Elternzimmer. Ihr Bruder steht unter der Tür, seine Augen funkeln, er zieht seine Windel aus und wirft sie energisch durch den Raum, dann toben die Kinder auf dem Elternbett, wecken den Vater.

Ich könnte nun Szene für Szene beschreiben, ohne auch nur ansatzweise zu vermitteln, was der Film macht. Von zwei Männern werden im Wald Bäume angesägt, die am Ende des Films umfallen werden. In einer Sequenz sehen wir den Mann und die Frau in einem riesigen Dampfbad in Paris, das offenbar auch so etwas wie ein Swingerclub ist. Ein Familienfest. Zwei Rugbyteams.

Das Bildformat des ganzen Filmes ist das klassische, fast quadratische Akademieformat. Dem breitwandgewohnten Auge erscheint es fast höher als weit – und so will es Reygadas auch eingesetzt haben: Der Horizont ist in diesem Film über den Bergen, dem Wald, in der Höhe. Und Menschen sehen grossartig aus in diesem Rahmen.

Wobei: Rahmen. Den definierte Frame des Kinos, die scharf abgesetzten Ränder des Bildes, die löst er in fast allen Aussenaufnahmen auf. An ihre Stelle tritt ein Bild mit Tilt-Shift-Effekt, scharf in der Bildmitte, mit unscharfem Vorder- und Hintergrund und Bilddoppelungen gegen die Ränder aussen. Auf der riesigen Leinwand in Cannes wirkt das paradox: Ein Kamerabild, das künstlich miniaturisiert und dann aufgeblasen und maximal projiziert wird.

Es gab Kollegen hier in Cannes, die haben diesen seltsamen Tunnelblick dem Teufel zugeschrieben, der am Anfang (und gegen Ende) des Films auftritt. Ich selber war versucht, die Perspektive als Blick des sterbenden Vaters zu interpretieren. An der Pressekonferenz meinte Reygadas, beide Interpretationen seien ihm recht. Der Blick allerdings rühre eher daher, dass er für seine Familie ein Haus gebaut habe und dann mit dem perfekten modernen Fensterglas nicht glücklich gewesen sei: Man könne es nicht sehen.

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Der Filmtitel Post tenebras lux (auf die Dunkelheit folgt das Licht) ist programmatisch, passt zum letzten Film, und genau darum habe er auch gezögert, ihn zu setzen, sagt Reygadas. Überhaupt empfinde er es als das grösste Kompliment, dass niemand seinen Film verstehe. Der verzweifelten jungen Filmjournalistin aus Italien, die ihn bat, ihr eine brauchbare Synopsis zu formulieren, erklärte er ganz ernsthaft, wenn er das täte, bräuchte man ja den Film nicht mehr.

Damit hat Carlos Reygadas gleichzeitig die Magie seines Werkes definiert und seine Unabhängigkeit von allen Spielregeln deklariert. Buster Keaton sei einer seiner Helden. Und zugleich könne er nicht verstehen, warum viele Leute seine Filme deprimierend fänden: Er habe einen grossen Sinn für Humor. Das hat er tatsächlich. Und ein grosses Auge, grossen Mut und eine grosse Ernsthaftigkeit dazu. Carlos Reygadas ist tatsächlich ein Künstler des Kinos, einer der wenigen, dem es mit jedem Film wieder gelingt, eine neue Sicht vorzuschlagen.

Was Leos Carax mit Holy Motors vor allem auf inhaltlicher Ebene gelingt, versucht Reygadas radikal und erfolgreich auch formal und technisch. Er will keine Sicherheiten, er will das Leben.

Regisseur Carlos Reygadas

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