Locarno 12: LA FILLE DE NULLE PART von Jean-Claude Brisseau

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Jean-Claude Brisseau ist mittlerweile so etwas wie ein monstre sacré des franzöischen Films, seine Auseinandersetzungen mit der Erotik haben ihm Lob und Ärger eingebracht. Wenn er jetzt in La fille de nulle part mit über siebzig Jahren unter seiner eigenen Regie einen philosophierenden, cinéphilen ehemaligen Mathematikprofessor spielt, dann darf man das zum Wunschwert als alter ego auslegen. Zumal der Film von einer ironischen Verspieltheit ist, die sich gewaschen hat.

Da sitzt der alte Mann in seiner geräumigen Wohnung in Paris und schreibt an seinem Essay über Mythen und Glaubenssysteme, ein Skeptiker und Agnostiker, und hört Lärm im Treppenhaus. Sein Blick vor die Tür lässt einen Mann flüchten, der eben dabei ist, eine junge Frau brutal zusammenzuschlagen. Der Alte trägt die blutende Frau ins Wohnzimmer und verspricht ihr, weder einen Arzt noch die Polizei zu rufen.

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Natürlich sind sowohl der Alte wie auch die junge Frau grundsätzlich sperrige Menschen und natürlich finden sie sich. Aber wie! Brisseau zieht alle französischen Wort- und Geistregister. Da wird liebenswürdig philosophiert und theoretisiert. Aber auch gepoltert, und zwar richtig: Mit der jungen Frau hat eine weitere Präsenz in der Wohnung Einzug gehalten, im Genrekino würde man von einem Poltergeist reden müssen. Da aber der alte Mann nicht die geringste Absicht hat, an Geister zu glauben, oder sich gar von einer eindeutigen Präsenz erschrecken zu lassen, sind diese Momente so komisch wie verblüffend.

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La fille de nulle part bezieht sich als Titel wohl auch auf einen französischen Stummfilm, La femme de nulle part, den Louis Delluc 1922 gedreht hat. Aber bei Brisseau wird das zur liebenswürdigen und abgeklärten Altmännerphantasie, zu einem ironischen Spiel mit den eigenen Wunschvorstellungen und der Bereitschaft der Menschen, sich eher einem Glauben zu überlassen, als dem Nichts. Und selbst mit der Erotik spielt Brisseau dieses Mal liebenswürdig und selbstironisch – und vor allem en passant.

La fille de nulle part 3

Das ist ein Film, den man durchaus als Vermächtnis nehmen könnte, als wehmütigen Abschied eines Künstlers, der dabei mit beiden Augen zwinkert und eine Reinkarnation nicht ausschliesst – auch wenn er sich weigert, daran zu glauben: Schön wäre es doch.

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