Locarno 14: L’ABRI von Fernand Melgar

'l'abri' © Agora Films
‚l’abri‘ © Agora Films

Immer wieder schaut Fernand Melgar, der Schweizer Regisseur mit spanischen Wurzeln, in seinen Filmen dorthin, wo man sonst den Kopf weg dreht: in die Parallelwelten der Immigrantinnen und Immigranten in der Schweiz. La Forteresse, Gewinner des Goldenen Leoparden im Jahr 2008, dokumentierte den Alltag in einem Empfangszentrum für Asylsuchende. Vol Spécial von 2011 zeigte die Situation in einem Ausschaffungsgefängnis für abgewiesene Asylsuchende.

Sein neuer Film nun, L’abri, taucht ab zu den Ärmsten in der Stadt Lausanne, auch sie fast alle Zugewanderte. Und «abtauchen» ist hier wörtlich gemeint: Schauplatz von L’Abri («Obdach») ist eine Zivilschutzanlage unter Tag, am Rand von Lausanne, die in den Wintermonaten Schlafplätze für Obdachlose anbietet. Betrieben wird sie vom Sozialdienst der Stadt, eine Übernachtung kostet fünf Franken. Aber: das Obdach hat maximal 50 Plätze zu vergeben, meistens jedoch warten draussen bis zu siebzig Menschen.

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Fernand Melgar macht mit L’Abri formal keine Experimente, bringt filmisch nichts Neues – das ist aber auch nicht nötig. Der Film lebt vom Kontrast, den er schafft zwischen uns und dieser Parallelwelt, die eben auch bei uns, quasi unter unseren Füssen existiert, und die wir normalerweise gar nicht wahrnehmen.

Immer und immer wieder, einem Refrain gleich, zeigt der Film eine ähnliche Szene: Abend für Abend stehen Menschen vor dem Tor der Zivilschutzanlage am Rand von Lausanne. Und Abend für Abend muss das Personal Leute abweisen, ihnen das Tor vor der Nase zuschlagen.

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Dazwischen fokussiert der Film auf einige dieser Menschen dort. Da ist der junge Afrikaner, der 12 Jahre lang in Spanien gearbeitet hat, bevor er in die Schweiz gekommen ist. Seiner Mutter, die möchte, dass er heimkommt, erzählt er, dass es ihm gut gehe und er Arbeit habe. Zurückkehren kann er nicht, weil er kein Geld hat und weil er sich schämt.

Da ist ein lateinamerikanisches Paar, das ebenfalls lange in Spanien gelebt hat, bevor sie die Krise fortgetrieben hat. Beide suchen Arbeit, sind nach ihrer Ankunft noch optimistisch. Aber die Obdachlosigkeit ist auch eine Belastung für die Beziehung. Und da ist eine Romafamilie, die mit dem Auto aus Rumänien gekommen ist, in der Schweiz aber nicht arbeiten kann und aufs Betteln angewiesen ist.

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Auf der anderen Seite sind die Mitarbeiter, die jeden Abend Türsteher sein müssen, darüber bestimmen müssen, wer in die Wärme darf und wer auf der Strasse schlafen muss. Auch sie müssen immer wieder neu mit sich ringen, streiten mit dem Leiter der Stelle um jeden Menschen mehr, den sie herein lassen dürfen, und wissen doch, dass die beschränkte Bettenzahl immer eine Selektion verlangt.

Melgar führt keine Interviews mit den Leuten, seine Kamera ist einfach dabei, filmt die Menschen bei ihren Gesprächen, beim Essen, beim Schlafen gehen, beim Aufstehen, beim Ämtergang, filmt die Draussengebliebenen bei ihrer Suche nach einem Platz, wo sie hoffentlich kein Bussgeld für «Campieren in der Öffentlichkeit» bezahlen müssen.

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Einen Kommentar bieten lediglich die – manchmal etwas sehr didaktisch platzierten – Symbolbilder, die Melgar immer wieder einbaut: Das Schweizerkreuz auf der Mütze eines vor Verzweiflung weinenden Obdachlosen. Die Weihnachtsbeleuchtung mit der Schrift «Joyeuses fètes» über dem Abgewiesenen, der nun in der Kälte einen Schlafplatz sucht.

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Der Film bezieht so konsequent keine Stellung und zeigt diese Parallelwelt so ungeschminkt und ungeschönt, dass er sowohl den politisch Linken wie Rechten Argumente liefern kann. Von Links könnte man argumentieren, es habe doch für mehr als nur für 50 Leute Schlafplätze in den Schweizer Städten, man könnte über Menschlichkeit und Unmenschlichkeit der städtischen sozialen Dienste nachdenken, über den riesigen Kontrast zwischen Arm und Reich in unserem Land. Von Rechts liesse sich vermelden, dass dies nun eben das Resultat des Schengenbeitritts und der Personenfreizügigkeit sei: Zuwanderung von armen Arbeitssuchenden, Armut und Obdachlosigkeit unter den Immigranten.

Einmal mehr legt Melgar den Finger auf ein Problem der Immigration – hier in L’Abri sind keine Asylsuchenden die Protagonisten. Es sind die Verlierer der Personenfreizügigkeit im Schengenraum, die Ärmsten eines neuen, grenzoffenen Europa, die auf die Schweiz als «Relax Country» gehofft haben, wie ein Senegalese einmal sagt.

Der Film schaut dahin, wo wir normalerweise lieber nicht hinschauen: er zeigt, wer die Menschen sind, die wir höchstens mal in Schlafsäcke gewickelt in einer Bahnhofsecke sehen. Er zeigt die bettelnde Romafrau nach ihrem «Feierabend», zeigt, wie ihre Kinder den «Stundenlohn» von zwei Franken neunzig am Spielautomaten wieder verspielen.

L’abri ist ein Film, den man eigentlich genauso schnell wieder vergessen möchte wie die Obdachlosen, die wir täglich am Bahnhof sehen. Im Kino aber laufen wir nicht schnell weg, nachdem wir allenfalls eine kleine Münze in einen Kartonbecher haben fallen lassen. Wir müssen wenigstens diese 100 Minuten hinschauen.

(67. Filmfestival Locarno, Concorso internazionale)

'L'abri': Fernand Melgar beim Dreh
‚L’abri‘: Fernand Melgar beim Dreh © Agora Films

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