Cannes 17: JUPITER’S MOON (Jupiter holdja) von Kornél Mundruczó

Aryan (Zsombor Jéger) levitiert © Proton

Der Mann, der 2014 mit White God in Cannes die Hunde losgelassen hat, macht nun einen Syrien-Flüchtling zum Engel in Ungarn. Oder gleich zu Christus, so suggeriert es jedenfalls manche Parallele in diesem eben so phantastischen wie verschmitzten Film.

Es fängt an wie ein hyperrealistisches Flüchtlingsdrama. Schlepper hetzen eine Gruppe von Menschen durch den Wald in Schlauchboote und über die Grenze zu Ungarn.

Aber sie werden gleich von der Grenzwache beschossen und László, der Leiter eines Internierungslagers erschiesst den jungen Syrier Aryan mit seiner Pistole. Drei Geschosse durch Brust und Bauch.

Aber dann steigen die ersten Blutstropfen vom Körper auf und schweben in die Höhe und schliesslich levitiert der ganze Körper, Aryan schwebt hoch über den Baumwipfeln. Und stürzt in dem Moment krachend durch die Kronen wieder auf den Waldboden, als man sich als Zuschauer schon damit abgefunden hat, wieder einmal einer metaphorischen Sterbeerfahrung beizuwohnen.

Aryans (Zsombor Jéger) Himmelfahrt © Proton

Aber nein: Aryan Dashi ist echt, er kann schweben, und er fürchtet sich selber fast zu Tode davor. Zumal er eigentlich nur seinen Vater, einen Zimmermann, wieder finden möchte, von dem er auf der Flucht getrennt wurde.

Und nun kommt der zynische Doktor Stern ins Spiel, ein Arzt ohne Glauben und Skrupel, seit er im Suff bei der Narkose den Tod eines jungen Spitzensportlers verursacht hat. Er versucht nur noch, genügend Geld zusammenzuraffen um mit seiner Freundin, einer Ärztin, ins Ausland verschwinden zu können.

Und da kommt ihm dieser junge Levitator gerade recht. Dr. Stern will den Wundermann als Wunder an die Leute bringen, insbesondere an reiche Kranke, denen er Heilungschancen suggeriert.

Dr. Stern (Merab Ninidze) und Aryan (Zsombor Jéger) © Proton

Das ist zwar mindestens so skurril und zynisch und abgehoben wie es in der Nacherzählung klingt. Aber keinesfalls so gefilmt oder erzählt. Im Gegenteil. Mundruczó setzt wie bei White God auf Realismus im ungarischen Alltag. Seine Figuren sind glaubwürdig und intelligent, bösartig oder korrupt, aber immer realistisch. Und genau das macht einmal mehr die Magie dieses Filmes aus.

Dr. Stern (Merab Ninidze) und Aryan (Zsombor Jéger) © Proton

Dr. Stern ist sich bewusst, wie unmöglich seine Beobachtung ist. Und als ihn seine Freundin fragt, ob er zu viel getrunken habe, antwortet er: Nein, zuwenig.

Aber ob Aryan nun eher Engel ist oder doch eher eine Jesusfigur, wie etliche gleichnisartige Szenen augenzwinkernd und erschreckend zugleich suggerieren, spielt gar keine grosse Rolle. Wichtiger ist die Wandlung des Dr. Stern vom Zyniker zum opferbereiten Liebenden.

Aryan (Zsombor Jéger) auf dem Sprung © Proton

Der Titel bezieht sich übrigens auf die realen Monde des Jupiters, insbesondere auf jenen, der Europa heisst. Und damit ist auch dieser Film, wie schon White God, wieder eine Europa-Metapher, aus der ungarischen Realität geboren. Und doch auch wieder mehr und zeitlos.

Denn Mundruczó sagt selber, er misstraue der Kunst, wenn sie sich auf die politische Aktualität beziehe, auch seiner eigenen. Er habe das Drehbuch als eine Art Science Fiction geschrieben, bevor die ungarische Flüchtlingspolitik und die Lager Realität geworden seien, und er habe gezögert, die Realität dann doch zur Ausgangslage des Films zu machen.

Warum er absolut richtig liegt mit seiner Einschätzung, kann jeder nachvollziehen, der in den ersten fünf Minuten des Films heimlich gestöhnt hat über die Aussicht, ein realistisches, brutales, blutiges Flüchtlingsdrama über sich ergehen lassen zu müssen, einen jener Filme, die neben Betroffenheit vor allem ein schlechtes Gewissen und einen Abstumpfungsreflex verursachen.

Dass Jupiter’s Moon aber schliesslich packt und unterhält und in seiner verqueren Metaphorik nachhaltiger einfährt als jede pseudodokumentarische Nachstellung des Flüchtlingsgrauens, das stellt Mundruczó ein weiteres positives Zeugnis für sein dramatisches Flair aus.

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