Locarno 17: MRS. FANG von Wang Bing

Das ist beileibe nicht der erste Dokumentarfilm, der einen Menschen beim Sterben begleitet. Aber Sterben in China, das unterscheidet sich offenbar doch wesentlich vom Sterben in der Schweiz.

Neun Jahre, nachdem bei der Bäuerin Fang Xuying eine Form von Alzheimer diagnostiziert worden ist, liegt sie nun mit geöffnetem Mund und meist geöffneten Augen auf dem Bett, permanente umgeben von einem grossen Teil ihrer Familie. Es sind die letzte zehn Tage ihres Lebens.

Fotograf und Filmemacher Wang Bing zeigt zwei Einstellungen aus dem Jahr 2015, als Frau Fang noch aufrecht vor dem Haus stand. Aber dann sind wir am Sterbebett, das im Gemeinschaftsschlafzimmer der Familie steht.

Ungewohnt und befremdlich sind dabei zwei Umstände: Der Lärm und die Nonchalance der anwesenden Männer und Frauen. Man raucht, der Fernseher läuft. Hin und wieder dreht jemand Frau Wang auf die Seite, oder träufelt ihr mit einer Spritze etwas Wasser in den stets offen stehenden Mund.

Im Verlauf der Gespräche erfährt man immer wieder Details. Etwa, dass Frau Wangs Sohn und Tochter sich von ihren Arbeitsplätzen beurlaubt haben, um bei der Mutter zu sein. Oder eine der Nachbarinnen erinnert sich an die Zeit, in der Frau Fangs Mann die Scheidung wollte und dafür vom Nachbarn verprügelt wurde und damit an seine Familienpflicht erinnert.

Die Männer gehen Fischen, mit selbstgebauten Elektrofanggeräten. Sie bringen aber bloss Weissfische zurück, die bald gekocht werden müssen, weil sie selbst dann zu stinken beginnen, wenn man sie tiefkühlt.

Frau Fang ist nie allein, auch wenn niemand sagen kann, wie viel sie noch versteht, von dem was um sie herum geredet wird.

Der Lärmpegel ist beträchtlich, aber man hat auch bald das Gefühl, das sei im Alltag in dieser und wohl auch in anderen Familien nicht anders. Und damit stirbt Frau Fang schliesslich umgeben von fast allen Kindern und Nachbarn, selbst der Enkel, über dessen Fernbleiben einer der Onkel sich aufgeregt hat, taucht noch rechtzeitig auf.

Dokumentarfilme wirken nie distanzierter als dann, wenn sie die extreme Nähe suchen. Denn dann fällt der Unterschied zwischen beobachten und eingreifen besonders ins Gewicht.

Wenn eine Filmerin die Schmerzen eines verletzten Mädchens dokumentiert, ist immer jemand im Saal, der sich empört darüber, dass sie gefilmt habe, statt zu helfen. Und wenn Wang Bing die Kamera auf das Gesicht der Frau Fang gerichtet hält, mit ihrem geöffneten Mund und den Augen, aus denen auch mal eine Träne rinnt, dann mag einen tatsächlich der Gedanke beschleichen, vielleicht sollte er sie lieber einfach streicheln.

Aber die Nähe und der Trost und die Pflege kommen ja von den Angehörigen. Mit einer Selbstverständlichkeit und hin und wieder auch sehr zupackend, dass es fast eben so fremd wirken kann, wie die lärmige Geschäftigkeit im vergleich zu unserem eher gewohnten Flüstern und Schweigen in Gegenwart einer Sterbenden.

Und spätestens damit wird auch klar, was ein solcher Dokumentarfilm über sein eigentliches Thema hinaus leistet, den Einblick in die kulturellen Unterschiede, die er fast nebenbei gewährt.

Und die seltsame Beschämung schliesslich, die einen beschleicht angesichts dieser so in den familiären Alltag integrierten Sterbebegleitung.