Cannes 18: AYKA von Sergei Dvortsevoy (Wettbewerb)

‚Ayka‘ Samal Yeslyamova © filmcoopi

Ayka ist eine junge Kirgisin in Moskau. Sie wohnt in einem jämmerlichen Haus, das der Besitzer kojenweise an illegale Arbeitssuchende vermietet. Aber das erste, was wir von ihr sehen, ist ihr neu geborenes Kind.

Beziehungsweise gleich vier Kinder, gebündelt und eingewickelt auf einem Wagen werden sie von einer Schwester der Entbindungsstation ins Zimmer mit den Müttern geschoben. Vier unterschiedliche winzige Gesichter sehen wir in Aufsicht, eines schlafend, eines skeptisch, eines wirkt uralt und unglücklich.

Die Frau legt die Kinder zu den Müttern in die Betten und fordert diese auf, ihnen die Brust zu geben. Aber Ayka verschwindet gekrümmt vor Schmerzen im Bad, steigt durchs Fenster und verschwindet durch den dichten Schnee. Sie muss zur Arbeit.

In einem höllischen Loch rupft und wäscht sie Hühner mit anderen Frauen und nimmt sie aus. Am Abend verlangen die Frauen ihren Lohn, der Aufseher fordert sie auf, sich je ein Huhn als Bonus zu nehmen, er müsse noch schnell die Ladung beaufsichtigen. Dann kommt er nicht wieder. Zwei Wochen Arbeit ohne Lohn.

Hundert Minuten dauert dieser Film von Sergei Dvortsevoy. Etwa zwei davon sind Momente der Ruhe für Ayka. Etwa eine Minute sehen wir sie schlafen, zweimal je eine halbe Minute vor einer Tasse Tee. Die übrige Zeit ist sie unter dauernden Bauch- und Brust-Schmerzen, Bluten und mit einem permanent klingelnden Telefon auf der Suche nach Arbeit und Geld.

Irgendwann reimt man sich zusammen, dass sie Schulden gemacht hat, um eine Nähmaschine zu kaufen und ein eigenes Atelier aufzubauen. Die Kredithaie sind ihr auf den Fersen, eine andere Frau hat ihr den Job als Ausstattungsnäherin in einem Filmstudio weggeschnappt.

Die einzige, die ihr hilft, ist die Putzfrau in einer Kleintierklinik, welche wiederum während der Arbeit ihren eigenen Sohn im Putzschrank versteckt hält. Für sie kann Ayka einspringen.

Das führ zu den grotesken Bildern, in denen die sich mit letzter Kraft ans Leben klammernde Ayka die Pisse und den Dreck von Hunden und Katzen mit Luxushalsbändern wegputzt. Die Klinik ist der einzige Ort, an dem in diesem Film das schamlos reiche Russland auf das höllisch unversorgte trifft.

Seit den ersten Filmen der neuen rumänischen Welle hat man lange nichts mehr gesehen, das so gnadenlos, hart und unnachgiebig die pure Existenzkampfhölle zum Leben erweckt.

Die hundert Minuten dieses Films sind hundert Minuten alltäglicher Horror, und Ayka gewinnt zwar unser Mitleid, aber kaum je unsere Sympathie. Schliesslich ist sie nicht nur Opfer in diesem höllischen Treiben, sondern auch Teil der Hölle für andere.

Anders als etwa Nadine Labakis Caphernaüm im gleichen Wettbewerb, versucht Dvortsevoy gar nicht, sein Publikum mit den geringsten Zugeständnissen zu halten. Ayka ist eine gezielte Tortur, ein Film, der nicht nur simuliert, sondern emuliert.

Schwer auszuhalten. Schwer zu vergessen.

Kommentar verfassen