Cannes 19: LES MISÉRABLES von Ladj Ly (Wettbewerb)

Damien Bonnard (Stéphane), Alexis Manenti (Chris), Djibril Zonga (Gwada) © Rectangle Prod.

In den Sozial-Blöcken von Montfermeil im 93. Arrondissement von Paris braucht es nur einen kleinen Anlass, um grosse Tragödien zu provozieren. Das merkt Polizist Stéphane (Damien Bonnard) sehr schnell, als er einer Drei-Mann-Brigade zugeteilt wird, die in dem Quartier für Ordnung sorgen sollen.

Chris, der Chef (Alexis Manenti), ist ein durchsetzungswütiger Choleriker, der auch mal eine 15jährige an der Bushaltestelle abtastet, weil sie einen Joint geraucht hat. Und das Mobiltelefon ihrer Freundin am Boden zerschmettert, weil die ihn dabei filmt.

Am Steuer des Wagens sitzt in der Regel Gwada (Djibril Zonga), der selber in den Blöcken aufgewachsen ist und Chris meistens etwas temperieren kann.

Die Jungs von der Banlieu in ‚Les misérables‘ © Rectangle Prod.

Dann klaut allerdings der etwa 12 Jahre alte Issa den Fahrenden vom Zirkus ein Löwenbaby, worauf diese im Quartier einfahren und damit drohen, alles eskalieren zu lassen, wenn der «Maire» nicht dafür sorgt, dass der Löwe schnell gefunden wird.

Eine weitere Fraktion bilden die Muslim-Brüder, die wiederum ihre eigene Art haben, die Kids von der Strasse zu holen. Die Polizisten geraten zwischen alle Fronten, als sie zu schlichten versuchen, den Jungen bei einer Verfolgung verletzen und von einem anderen dabei aus der Luft mit einer Drohne gefilmt werden: Nun wollen alle die Speicherkarte mit diesen Aufnahmen.

Regisseur Ladj Ly (ausgesprochen Latsch Lii) kennt das Milieu, das er in diesem Film inszeniert. Er ist darin aufgewachsen. Er hat 1995 La haine von Matheu Kassovitz gesehen und darauf hin ein eigenes Filmkollektiv gegründet.

Ly und seine Freunde haben unzählige Videos und Dokumentarfilme gedreht. Nach den massiven Unruhen von 2005 hat er eigene Erlebnisse mit Polizeibrutalität dokumentiert und damit einen Skandal ausgelöst.

Aus dieser Erfahrung ist ein Kurzfilm entstanden und nun eben Lys erster Langfilm mit dem gleichen Titel: Les misérables. Auf Victor Hugo bezieht er sich nicht, weil die Handlung die gleiche wäre. Aber weil das Quartier das gleiche ist, weil die Lebensumstände seiner Bewohner nicht besser sind.

Les misérables beginnt mit einem Volksfest, das aussieht, wie die Aufmärsche der gilets jaunes. Allerdings sind es jubelnde Menschen, allen voran der junge Issa, in eine Trikolore gewickelt, die einen Sieg der Fussballnationalmannschaft bejubeln.

Jeanne Balibar, in einem Kurzauftritt als Vorgesetzte der drei Polizisten, erklärt, dreissig Grad Hitze sei schlecht, da sei der Teufel los im Quartier. Aber 35 Grad, wie heute, und das nach der Siegesfeier: Das sei ideal, da hängen alle bloss noch zuhause rum wie tote Fliegen.

Wie der Film seine Figuren einführt und die Verbindungen und Verstrickungen in dieser Banlieu schildert, das ist realistisch und raffiniert. Man spürt Ladj Lys grosse Vorbilder, Spike Lee und Jacques Audiard. Zugleich ist Les misérables aber auch sehr eigenständig und so gut konstruiert, dass auch die groteskeren Momente sich nahtlos und realistisch ins Ganze fügen.

Bis zum eskalierenden Schluss, bei dem allen die Kontrolle entgleitet und sich etwas Bahn bricht, das schon lange gebrodelt hat, bei den Jungen, bei denen, die innerhalb der sozialen Hackordnung am wenigsten Rechte haben, am meisten Wut, und die ungewisseste Zukunft.

Les misérables reiht sich nahtlos und wuchtig ein in die Reihe der vielen engagierten französischen Filme der letzten Jahre, die versuchen, das filmische Milieu um jene Menschen und Lebensumstände zu erweitern, die sonst eher als Statisten im Hintergrund der bürgerlichen Dramen eingesetzt werden.

Ladj Ly, réalisateur ‚Les misérables‘ © Rectangle Prod.

Kommentar verfassen