Cannes 19: ROUBAIX, UNE LUMIÈRE von Arnaud Desplechin

Roschdy Zem, Léa Seydoux © Why Not Prod.

Mit fast all seinen Filmen sei er romantisch geworden, zu romantisch oft. Das behauptet Arnaud Desplechin in seinem Director’s Statement zu Roubaix, une Lumière. Es sei Zeit geworden für Realismus.

Da bleibt er paradox, schon im Titel dieses Versuches, Realismus walten zu lassen. Als ehemals blühende Industriestadt ist Roubaix nahe der belgischen Grenze heute offenbar eine der ärmeren und schwierigeren Städte Frankreichs.

Das suggeriert auch der Anfang von Desplechins Film, während dem Polizeikommissar Daoud (Roschdy Zem) auf seiner nächtlichen Fahrt routinemässig an einem brennenden Autowrack vorbeikommt.

Es ist nicht der erste Zwischenfalls dieser Nacht und längst nicht der letzte. Dabei ist die Nacht heiliger Abend. Und der Filmtitel verkündet Roubaix, une lumière – Roubaix, ein Licht.

Realismus? Doch. Desplechin insistiert. Der Kern dieses Films bildet eine Erinnerung des Filmemachers an ein Verbrechen, das sich vor zehn Jahren via TV in seinen Kopf gebohrt hatte.

Sara Forestier, Léa Seydoux © Why Not Prod.

Die Geschichte zweier jüngerer Frauen, welche ihre 83jährige Nachbarin umgebracht hatten. Normalerweise identifiziere er sich mit den Opfern, erklärt Desplechin. Aber in diesem Fall habe er die zwei Frauen als seine Schwestern im Geiste erlebt.

So lässt er nun Léa Seydoux als Claude und Sara Forestier als Marie diesen Mord begehen. Und eine ganze Reihe fiktiver Polizisten an der Aufklärung arbeiten.

Der fiktivste von ihnen ist Roschdy Zems Kommissar Daoud. Ein humaner, verständnisvoller Einzelgänger mit einem unerschütterlichen Glauben in die regulierende Kraft der staatlichen Institution. Der Mann versteht sie alle, die kleinen Versicherungsbetrüger, die Diebe, die Brandstifter. Er kann mit unerschütterlicher Sicherheit die Schuldigen von den Unschuldigen unterscheiden. Und weil er in dieser Stadt aufgewachsen ist, kennt er auch die Menschen, vermittelt, erklärt, hört zu.

Daoud ist eher ein gütiger Pater Superior als ein Polizist. Daoud ist reine Fiktion. Daoud ist das Gegenkonzept zu sozialrealistischen Filmen wie Ladj Lys Les misérables, welche die Polizisten als mindestens so verloren darstellen, wie ihre allfälligen Opfer.

Aber Daoud ist auch eine Art Maigret, die Figur in diesem Film, die unser Verständnis weckt für all jene, denen wir sonst weder zuhören noch zusehen würden.

Antoine Reinartz, Roschdy Zem © Why Not Prod.

Wie in Les misérables kommt auch in Roubaix… ein jüngerer Polizist neu zu den Mannschaft. Dieser Louis (Antoine Reinartz) ist ein gläubiger, unsicherer, williger Aufklärer, der in der Not mit dem Priester seines vorherigen Wohnortes telefoniert, bis er in Daoud den neuen Pater superior findet.

Antoine Reinartz, Roschdy Zem © Why Not Prod.

Man könnte spotten über all diese Konstruktionen. Aber es gelingt Desplechin erstaunlicherweise, den Eindruck realistischer Polizeiarbeit aufrecht zu erhalten, durchgehend und instruktiv.

Gleichzeitig sind Léa Seydoux und Sara Forestier, als es dann konkret zur Sache geht, wirklich sehr überzeugend.

Léa Seydoux © Why Not Prod.

Roubaix, une lumière ist ein sehr eigenwilliger Film. Desplechin verbindet die Fiktion der Fernsehkommissare mit der Realität eines echten Mordes und schafft wieder… romantisches Kino.

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