Venedig 19: LA VERITÉ
von Hirokazu Kore-eda

Catherine Deneuve und Juliette Binoche in ‚La verité‘ © 3B-Bunbuku-MiMovies-FR3

Er ist der Seismograph der japanischen Befindlichkeit, der Meister der japanischen Familiengeschichten, der «Ken Loach Japans», wie er auch schon genannt wurde: Hirokazu Kore-eda. Nun hat sich auf ein komplett neues Terrain gewagt: Er hat einen französischen Film gedreht, mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche in den Hauptrollen. Und mit Ethan Hawke als Binoches US-amerikanischem Ehemann.

Fabienne (Deneuve) – eine berühmte französische Schauspielerin – veröffentlicht ihre Memoiren. Zu diesem Anlass kommt ihre Tochter Lumir (Binoche) samt Ehemann (Hawke) und kleiner Tochter zu Besuch. Das Treffen von Mutter und Tochter – nach längerer Zeit – ist nicht besonders herzlich, und der Konflikt bricht umso mehr auf, als Lumir das Buch ihrer Mutter gelesen hat. Und dass Fabienne im Moment ausgerechnet in einem Film mitspielt, der eine Mutter-Tochter-Beziehung ad absurdum führt, verkompliziert alles noch einmal mehr.

Es ist ein lustvolles Spiel, das Kore-eda in La Verité aufzieht, ein leichtfüssiges, stellenweise sogar sehr witziges – das sich immer um die Frage dreht: «Ist es in einer Familie besser, sich immer die grausame Wahrheit zu erzählen oder besser zu einer netten Lüge zu greifen»? Oder – wie es Kore-eda selber zu diesem Film formuliert hat: «Was macht eine Familie zur Familie? Wahrheit oder Lüge?».

Nicht erst seit Kore-eda mit Shoplifters im letzten Jahr die Goldene Palme von Cannes gewann, gehört der japanische Regisseur zu den ganz grossen Meistern des Kinos. In seine Filmen, die spätestens seit Nobody Knows (2004) (über vier Waisenkinder, die langsam verwahrlosen, weil niemand sie wahr nimmt) auch einem europäischen Publikum bekannt sind, spielt er in immer wieder anderen Variationen mit den fragilen und doch starken Gefügen von echten Familien und Wahlverwandtschaften.

In Like Father, Like Son treffen zwei Familien aufeinander, deren Söhne als Babys im Krankenhaus vertauscht wurden. In Air Doll hat ein einsamer Mann als einzige Gefährtin eine Gummipuppe, die zum Leben erwacht. In Shoplifters fügt sich eine Zweckgemeinschaft am Rande der Gesellschaft zu einer Fast-Familie zusammen.

Catherine Deneuve, Ethan Hawke © 3B-Bunbuku-MiMovies-FR3

Nun also der Sprung über den Gartenzaun, nach Frankreich – mit einer französischen Crew und einem französisch und englisch sprechenden Cast.

Kore-eda hat sich mit ihnen nie direkt unterhalten können, alles musste mit Dolmetschern geschehen. Es ist verblüffend, nun plötzlich einen Kore-eda-Film im Gewand einer französischen Familienkomödie zu sehen, mit so bekannten und vertrauten Gesichtern wie Deneuve oder Binoche.

Das ergibt einen seltsamen Verfremdungseffekt, der von Kore-eda so wohl nicht unbedingt beabsichtig war, und der unseren europäischen Kinogewohnheiten geschuldet ist. Und der leicht dazu verführt, den Film nach dem ersten Eindruck als Kore-edas Version einer etwas zu oberflächlich geratenen französischen Familienkomödie zu sehen.

Aber der Film wirkt nach. Da ist – trotz aller Sprach- und Kulturbarrieren – wieder diese Meisterschaft des japanischen Filmemachers zu finden, grosse Dinge, Emotionen, Momente mit ganz leichtem Pinselstrich fast nebenbei zu platzieren. Da ein unerwarteter Twist, dort noch eine ironische Drehung.

Und selbst Kore-edas Hang zum Sentimentalen, zum Kitsch, den er immer elegant und treffsicher einzusetzen wusste, wird hier in La Verité selbstironisch zerpflückt und – mit dem Stilmittel des Films im Film, was eine zusätzliche Ebene der (Selbst-)Reflexion erlaubt – ebenfalls als reine Inszenierung entlarvt.

Juliette Binoche, Ethan Hawke in ‚La verité‘ © 3B-Bunbuku-MiMovies-FR3

Einziger Schwachpunkt des Films ist das Zusammenspiel von Juliette Binoche und Ethan Hawke – da harzt es, man nimmt ihnen das Ehepaar nicht so recht ab – und Hawke, der sonst auch ein Schauspieler der leisen Töne ist, wirkt seltsam grob und laut in diesem Familienreigen.

La Verité ist ein verblüffender und auf den zweiten Blick dennoch sehr typischer Film des japanischen Regisseurs Kore-eda. Und damit, und mit den beiden toll aufspielenden französischen Stars Catherine Deneuve und Juliette Binoche, ist das Filmfestival von Venedig heiter und elegant gestartet.

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