Jetzt hat auch bei der traditionellen Juli-PK des Locarno Filmfestivals die Neuzeit Einzug gehalten. Während früher die Verantwortlichen jeder Sektion ihr Programm selber ausführlich vorstellten (indem sie mehr oder weniger die Pressemappe vorlasen, welche die Journalisten schon vor sich liegen hatten), war die heutige Veranstaltung knapp und präzise. Marco Solari, Präsident des Festivals, begrüsste, freute sich über die Sponsoren, erklärte, sein Laden sei finanziell derzeit recht stabil, aber man dürfe nie still stehen, alle Festivals seien in Bewegung und das Zürich Film Festival eine ernstzunehmende Konkurrenz (ach ja? Im Hinblick auf die Finanzierung dürfte dies wohl zutreffen. Programmlich darf man da noch eine Weile zu warten, zumal, wenn es um Locarnos traditionelle «Ware», die Neuentdeckungen, geht.). Und dann stellte Frédéric Maire die Schwerpunkte seines dritten (und zweitletzten) Festivals vor, sehr persönlich und sehr überzeugend. Ich meinerseits mache nun eine kleine Rosinenpickerei und erzähle, worauf ich denn so gespannt bin und worauf ich mich freue:
Da steht ganz zuvorderst für mich der Besuch der wunderbaren Anjelica Huston, die den diesjährigen «Excellence Award» bekommt. Spannend dürfte auch die Begegnung mit der New Yorker Produzentin Christine Vachon werden, die den diesjährigen Produzentenpreis bekommt. Vachon hat neben den Weinsteins, Scorsese und allenfalls Woody Allen wohl am meisten für den Ruf New Yorks als Ostküsten-Hollywood getan.
Die Retrospektive, welche dieses Jahr dem römischen Quirl Nanni Moretti gewidmet ist, hat den gleichen Nachteil wie die meisten Locarno-Retros der letzten Jahre: Das Gesamtwerk des Schauspielers und Regisseurs ist noch zu frisch, um viele Neuentdeckungen zuzulassen, zumindest für die professionellen Festivalgänger. Für das Publikum (und für dieses wird das Locarno Festival veranstaltet, das darf ruhig hin und wieder in Erinnerung gerufen werden) ist Moretti aber durchaus eine interessante Figur. Zudem ist die Retrospektive für den politisch engagierten Italiener ein kleiner Coup im Hinblick auf das Konkurrenzfestival in Venedig, das seit Jahren gegen den Ruf ankämpfen muss, von konservativen Politikern gegängelt zu werden.
Bei den Filmen fallen natürlich zuerst immer die grossen Publikumsrenner auf der Piazza Grande ins Auge. Und da sind auch in diesem Jahr ein paar Leckereien zu erwarten. Zum Beispiel der Eröffnungsfilm, eine weitere Verfilmung von Brideshead Revisited, dem Dauerbrenner von Evelyn Waugh. Da Emma Thompson und Michael Gambon mitspielen, hat der Film eine eingebaute Garantie: Den beiden mag man IMMER zusehen, selbst wenn rundherum nichts oder das falsche abgeht. Dann wird auf der Piazza Choke zu sehen sein, ein Film von Clark Gregg, nach einem Buch von Fight-Club-Erfinder Chuck Palahniuk. Und dies auch noch mit Anjelica Huston (siehe oben) in einer tragenden Rolle. Die verunglückte Eiger-Nordwand-Besteigung von 1936 steht im Zentrum von Nordwand von Philipp Stölzl. Absurderweise gehts auch noch weiter mit gezieltem Alpenhorror, in der Fortsetzung des österreichischen Heimat-Slashers In drei Tagen bist Du tot II von Andreas Prochaska, dessen erster Teil in Locarno schon für Gänsehaut bei Genre-Freunden gesorgt hatte. Natürlich soll weiterhin niemand vergrault werden, auch diese Fortsetzung wird auf der Piazza Grande als Mitternachtsfilm laufen. Die lange angekündigte britische Komödie mit Kampf-Kindern, Son of Rambow schafft es nun dieses Jahr doch noch auf die Piazza Grande, nach dem der Film 2007 im globalen Festivalcircuit ziemlich abgeräumt hatte.
Bevor ich mich ins Abtippen der offiziellen Programmlisten versteigere, hier einfach noch ein paar Hinweise auf Filme, auf die ich gespannt bin, auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wie sie dann ausfallen werden: Von Dominique de Rivaz, die den wunderbaren «Mein Name ist Bach» gemacht hat, kommt der neue Film Luftbusiness, der sich um ein paar Typen dreht, die via Internet alles verkaufen, sogar sich selber. Inhaltlich tönt das nach einer modernen Mephisto-Variante. In der Kritikerwoche (deren Ko-Leiter ich bis Ende letzten Jahres war – heute kann ich dafür wieder schamlos Werbung machen), bin ich vor allem gespannt auf Niko von Glasows «NoBody’s Perfect». Der hat aus der Entstehungsgeschichte seines Aktfotobuches mit Contergangeschädigten einen Dokumentarfilm gemacht, bei dem schon die Plakatfrage ziemlich entwaffnend ist: Wer sagt, dass ein Fotomodell Arme haben muss? Zwölf Contergan Geschädigte sind anderer Meinung.
Am 6. August gehts los. Ganz ungeduldige können allerdings schon am 1. August einsteigen: Auf Wunsch von Locarno-Präsident Marco Solari wird das Open-Air-Kino der Piazza Grande vom 1.- 3- August kommerziell genutzt, mit Publikumsfilmen gegen Eintritt. Um so noch einen kleinen Batzen aus der teuren Infrastruktur herauszuschlagen. Das sei allen herzlich gegönnt.