Dürrenmatts Diktum, dass eine Geschichte erst dann zu Ende gedacht sei, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe, stürzt einen bei Peter Stricklands Berlinale-Wettbewerbs-Drama Katalin Varga in eine gedankliche Endlosspirale. Katalin macht sich mit ihrem elf Jahre alten Sohn Urban auf den Weg, die beiden Männer zu finden, die sie einst vergewaltigt haben. Der Sohn weiss nichts davon, er weiss auch nicht, dass Katalin von ihrem Mann, den er für seinen Vater hält, verstossen wurde, weil er von der Vergewaltigung erfahren hat. Auch als Zuschauer reime ich mir die Geschichte erst langsam zusammen, Strickland entwirft zunächst fast eine Stunde lang eine fiebrige Landschaft aus Bildern und Tönen, in der stets eine Ahnung des Grauens mit schwingt. Katalin findet den einen der Männer und schlägt ihm, der sie nicht erkannt hat, bei einem Schäferstündchen den Schädel ein. Nun ist sie nicht nur auf der Flucht vor der Vergangenheit, sondern auch vor der Polizei – und versucht dabei, ihren Sohn von allem fernzuhalten, aus Angst, auch ihn noch zu verlieren. Aber erst nach einer Stunde macht der Film das wahre Dilemma auf: Katalin Varga trifft auf den zweiten Vergewaltiger, der sie ebenfalls nicht erkennt, glücklich, aber kinderlos verheiratet ist, und ein netter Kerl, der sich sofort prächtig mit Urban versteht – ohne zu wissen, dass dieser sein Sohn ist.
Was in der Nacherzählung melodramatisch tönt, ist auf der Leinwand ein konsequenter, oft sonniger Albtraum mit einer Darstellerin, in deren Gesicht ein feines Lächeln eingegraben ist. Die Kamera treibt nicht die Geschichte, sie fängt Bilder ein, welche mit einem expressiven, fremdartigen Tonbett unterlegt sind. Peter Strickland ist auch Musiker, er gehört zur mittlerweile zehn Jahre alten Sonic Catering Band, welche ihre Kompositionen ausschliesslich aus Küchengeräuschen montiert.
Das Schreckliche an diesem Film ist der Umstand, dass man schon vor dem Ende nicht mehr weiss, was denn nun die schlimmstmögliche Wendung der Geschichte sein könnte. Es gibt kein einzelnes Schicksal, was immer einer der Figuren passiert, betrifft auch andere. Und doch ist es Katalin selbst, für die es keinen Ausweg mehr gibt. Dabei ist die Frau kein Opfer, sondern eine unglaublich entschlossene Kämpferin auf absolut verlorenem Posten. Das liegt sehr quer zu den vielen starken Frauenfiguren in der diesjährigen Berlinale. Die meisten Filme hier (von Männern wie von Frauen) lassen ihre Protagnostinnen am Schicksal wachsen, entlassen sie in eine offene, aber selbstbestimmte Zukunft. Stricklands Katalin gehört nicht zu ihnen.
Es wäre wohl zu einfach, die Geschichte dieser rumänisch-ungarischen Koproduktion eins zu eins in Verbindung zu setzen mit Filmen wie Grbavica, welche das doppelte Dilemma vergewaltigter Frauen und ihrer Kinder zum Thema machen. Denn Stricklands Film bewegt sich ausserhalb der vertrauten Landschaften. Aber Katalina Vargas Not ist die gleiche. Und dass niemand von ihr wissen will, ist der Kern des Dramas.
Damit ist dieser Film klarer Kandidat für den Goldenen Bären, auch und gerade darum, weil es wohl genügend Leute gibt, die gerade davon nichts würden wissen wollen. In einer Szene gegen Ende des Films gehen der Mann und Katalin im Wald auf die Suche nach Urban, und der Mann nimmt eine schwere Axt mit. „Ist das nötig?“ fragt Katalin: „Ja, wegen der Bären.“