Unter den Filmen des ersten Diagonale-Tages sind mir zwei besonders aufgefallen, weil sie beide um etwas herum gebaut sind, das sie nicht zeigen. Nikolaus Geyrhalter (Unser tägliches Brot) taucht mit seinem Dokumentarfilm 7915km tief in den Afrikanischen Kontinent ein, auf der Strecke, welche die Rally Paris-Dakar in 14 Tagen durchrast. Die einzigen Rally-Bilder sind am Anfang zu sehen, auf den Leinwänden einer Sponsorenpromotion. Geyrhalter besucht die Orte und die Menschen, an denen die motorisierten Dekadenzbolzer vorbeirasen. Der zweite Film, der seinen Kondensationskern nicht ins Bild rückt, ist Der erste Tag, eine ORF-ARTE-Fernsehproduktion von Andreas Prochaska (In drei Tagen bist Du tot). Es ist ein Katastrophenfilm mit unsichtbarer Katastrophe: Der GAU in einem grenznahen tschechischen Atomkraftwerk löst in Niederösterreich die Katastrophenalarmorganisation aus und führt zur Evakuierung.
Es scheint, als ob Prochaska mit seinen beiden In drei Tagen bist du tot-Filmen zum diensthabenden Genreregisseur Österreichs avanciert ist, und das nicht unverdient. Denn wie er es fertigbringt das Genre Katastrophenfilm realistisch und unspektakulär, gleichzeitig aber spannend und einleuchtend durch die Reifen einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt springen zu lassen, dass ist eine reife Leistung. Im Katalog der Diagonale versichert Dr. Heinrich Mis, ORF-Fernsehfilmchef:
Der erste Tag ist ein Bericht über eine naheliegende Utopie, ein durchaus vorstellbares Ereignis. Mit aller notwendigen Sorgfalt eines öffentlich rechtlichen Senders gemacht, soll das ein BEitrag zur Diskussion übe Energie, Sicherheit, Zvilschutz und Zivilcourage werden. Das ist seriöse Science Fiction.
Das (medien-) politisch ’seriöse‘ an der Dramaturgie zeigt sich unter andere daran, dass die Behörden, Alarmorganisationen, Ämter und Armeeeinheiten samt und sonders angemessen, adäquat und besonnen handeln. Das wäre (in) einem Kinokatastrophenfilm nicht passiert. Aber Prochaska holt das Maximum aus den eingeschränkten Möglichkeiten heraus, indem er sich gleich noch ein wenig weiter einschränkt. Den einzigen sichtbaren leiblichen Schaden nimmt ein früher Warner, der bei einem Unfall mit Fahrerflucht sein Leben lassen muss. Alle anderen Figuren sind entweder unter Dach und Fach, oder stehen buchstäblich im Regen, dem nur die drohende Musik und die sorgfältig aufgebaute Katastrophenstimmung seine strahlende Kontaminierung verleiht. Grosse Katastrophendramaturgie für die kleine Kiste. Der ORF2 hat den Film letzten November im Rahmen eines Atomkraft-Themenabend anlässlich 30 Jahre Zwentendorf gezeigt, die ARTE-Ausstrahlung ist noch offen.
Nikolaus Geyrhalter verfährt bei 7915km ähnlich rigoros. Bald am Anfang des Films schildert ein kleines Mädchen vor einer Hütte das Durchdonnern der Rally, in den Armen eine junge Ziege, welche ‚Rally‘ heisst. Später wird in anderen Zusammenhängen erwähnt, dass der Anlass die Strassen zerstöre, dass man den Eindruck bekomme, die Weissen seien zu reich und hätten nichts besseres zu tun. Aber nie bedient der Film einfach das Feindbild von der Tubel-Trophy (= Idiotenrally, für Nichtschweizer). Geyrhalter lässt einfach Menschen links und rechts der Route aus ihrem Alltag erzählen und bringt dabei viele Themen auf, welche wir kennen und doch selten in einen derartigen, fast panafrikanischen Zusammenhang stellen. Der Film endet in Dakar am Strand neben einem Haufen beschlagnahmter Flüchtlingsboote, ‚les pirogues de la mort‘ nennt ein Polizist die verrottenden Kähne, mit denen Tausende die Flucht nach Spanien oder Frankreich versuchen.