Cannes 09: Air Doll – Kuki Ningyo

Air Doll Hirokazu Kore-Eda

Der Japaner Hirokazu Kore-eda ist einer meiner Lieblingsregisseure, seit seinem Meisterwerk Maboroshi no hikari. Mit Dokumentarfilmen hat er angefangen und dann mit seinen Spielfilmen immer mehr jene Ecken der japanischen Gesellschaft erforscht, die auf den ersten Blick am unzugänglichsten erscheinen – und gerade darum die universellsten Filmerlebnisse bieten. Der Tod, der Abschied und das mögliche Leben nach dem Abschied gehören zu seinen Themen, am originellsten umgesetzt in After Life. Und jetzt soll der stille Regisseur einen Film über eine aufblasbare Sexpuppe gemacht haben?

Die knappe Zusammenfassung in den Festivalunterlagen (der Film läuft ausser Konkurrenz in der Sektion Un certain regard) und vor allem das launige Pressebüchlein in fleischfarbener Aufblashülle (Foto unten) machten noch weiter stutzig. In was für ein Territorium hat sich der Mann begeben, der 2004 mit den verwaisten Kindern in Nobody Knows – Dare mo shiranai das Publikum in Cannes verblüffte und bezauberte?

Und tatsächlich fängt Kuki Ningyo mit den Bildern an, die manche heimlich befürchtet haben: Ein Japaner mittleren Alters kommt von seiner Arbeit als Kellner nach Hause, setzt sich zu seiner Frau an den Esstisch und erzählt von seinem Arbeitstag. Dann schwenkt der Kamerablick auf das starre Puppengesicht der aufblasbaren Gespielin im Stuhl. Er nimmt sie liebevoll mit ins Bett und wäscht nach dem Verkehr im Badezimmer sorgfältig den einschlägigen Vaginal-Gummi-Einsatz aus. Am nächsten Morgen deckt er sie zärtlich zu und geht zur Arbeit.

Vor zwei Jahren war auch bei uns für kurze Zeit die amerikanische Produktion Lars and the Real Girl im Kino. Ryan Gosling spielte darin den gutherzigen Simpel, der sich in eine Sexpuppe verliebt und seine Angehörigen zwingt, sie als lebendiges Familienmitglied zu akzeptieren. Während die Tragikomödie einschlägige Peinlichkeiten verschämt vermied, leistete sich der Film etliche sentimentale und ideologische Patzer, welche ihn zu einem Dutzendprodukt werden liessen, trotz seiner „gewagten“ Anlage.

Kore-eda nimmt einen ganz anderen Weg. Zunächst einmal verzichtet er bewusst nicht auf die grundsätzliche Peinlichkeit des erwachsenen Mannes mit der Sexpuppe. Er zeigt den „Verkehr“ und die technischen Details mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit, nur, um sie so bald wie möglich aus dem Weg zu haben. Danach nimmt der Film nämlich eine ganz andere Wendung. Er wird zur Geschichte einer Menschwerdung, die Puppe wird zu ihrer eigenen Überraschung lebendig, bekommt ein Herz und Gefühle, sucht sich heimlich eine Stelle in einer Videothek und erstarrt nur jeweils am Abend wieder zum leblosen Sexspielzeug, wenn ihr Besitzer nach Hause kommt. Damit wird das auch, aber nicht nur, zu einer Olimpia-Geschichte nach dem Vorbild von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, aber auch zu einem weiblichen Kaspar Hauser, und manchmal, in der verspielten, magischen Inszenierung Kore-edas, zu einer Amélie in Tokyo. Und schliesslich erinnert die Geschichte in ihrer endgültigen Wendung auch an das Schweizer Thema vom Sennentuntschi, allerdings ohne die Horrorelemente.

Denn da ist einmal mehr die Magie, das Feingefühl, die liebevolle Ironie von Kore-eda am Werk, sein Gespür für die menschliche Unsicherheit und die richtigen Fragen im falschen Moment. Wenn die kindlich naive junge Frau durch Tokyo spaziert und unvermittelt ein Kind in einem Kinderwagen streichelt, bemerkt sei eine Sekunde zu spät die wütende Missbilligung der Mutter. Wenn sie eine Frau mit Strumpfnaht mit einer Dose Schminke beglückt, in der Annahme, es bei ihr mit einer aufgeblasenen Kollegin zu tun zu haben, welche noch nicht gemerkt hat, dass sich die Plastik-Schweissnähte überschminken lassen, dann haben diese tragikomischen Momente einen wunderbaren Nachklang. Und wenn sie sich schliesslich neben einer gerade eben erst leicht angewelkten Frau auf eine Parkbank setzt und ihr mit glücklichem Strahlen kund tut: Ich werde alt! (weil sie dafür ja zuerst lebendig werden musste), dann ist allein das ungläubige Entsetzen im Gesicht der anderen Frau den ganzen Film wert. Air Doll ist oft melancholisch-komisch, der Umgang der jungen Frau mit ihrem linkischen Kollegen in der Videothek erinnert auch an Michel Gondrys Figuren aus Be Kind Rewind, und überhaupt lässt gerade die Videothek viel Raum für cinéphile Querverweise und Spielchen.

Air Doll ist ein Film über die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und was es allenfalls bedeutet, für andere ein Mensch zu sein. Die Trauer der jungen Frau, wenn sie ihre eigene Verpackung entdeckt im Schrank und feststellt, dass sie nicht nur bloss ein Produkt zur bequemen Triebabfuhr ist, sondern auch noch die billigste Version dieses Produktes, findet ihr Echo in der Szene, in der sie ihren ursprünglichen Besitzer mit der Feststellung konfrontiert, dass es ja gar nichts gebe, was ihm an ihr gefallen habe -ausser eben ihrer so bequemen Eigenschaftslosigkeit als Puppe.

Die Puppen-Frau wird übrigens gespielt von der Koreanerin Doona Bae, welche in Park Chan-Wooks Sympathy for Mr. Vengeance und Bong Joon-Ho’s The Host zum koreanischen Star wurde. Beide Regisseure sind hier in Cannes mit neuen Filmen vertreten. Dass in Park Chan-Wooks Wettbewerbsbeitrag Thirst das Blut eine ähnliche Rolle spielt, wie die körpertragende Luft in Air Doll, ist nur einer dieser wunderbaren Festivalzufälle, die das Leben lebenswert machen. Noch lebenswerter aber machen das Leben ganz unzweifelhaft die Filme von Hirokazu Kore-eda.

Nachtrag 17. Mai 2009: In der Schweiz wird der Film vom trigon-Verleih ins Kino gebracht, der auch schon die bisherigen Filme des Japaners im Angebot hat.

air doll booklet
Das aufblasbare Presseheft zu 'Air Doll', mit dem Fortissimo-Films in Cannes den Film von Hirokazu Kore-eda bewirbt.

2 Antworten auf „Cannes 09: Air Doll – Kuki Ningyo“

  1. Im neuen Jahr Zeit gefunden um endlich mal wieder «Air Doll» zu schauen. Danach erneut diese Seite gelesen und umgehend nochmals den Podcast mit Kore-eda gehört.

    Und einmal mehr bin ich verblüfft, wie präzise Sennhauser den Nagel auf den Kopf trifft. Was er im letzten Satz den Filmen von Kore-eda zugesteht, gilt für mich gleichermassen für diesen Blog und seinen Podcast.

    Domo arigato!

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