Michael Haneke, der Österreicher, ist längst auch ein Franzose hier in Cannes. Spätestens seit seinen französischen Filmen wie Code inconnue oder Caché mit Juliette Binoche, ist er hier in Cannes jeweils auch angetreten à defendre la France, wie die Franzosen das gerne sehen. Mit Das Weisse Band ist er allerdings zurück in der unheimlichen Heimat. Nicht gerade Österreich, mehr das protestantische Norddeutschland, dazu kurz vor dem ersten Weltkrieg, in einem Dorf, das eine Welt ist. Aber was sich da abspielt, unter der dünnen Oberfläche des Alltags, das ist so mörderisch und niederträchtig, dass man sich trotzdem im österreichischen Kino wähnt.
Im Dorf, auf das der einstige Dorflehrer als Erzähler zurückblickt, gibt es vier Autoritäten: Den Herrn Baron, den Herrn Pfarrer, den Herrn Doktor und eben den Herrn Lehrer. Dem Herrn Doktor spannt jemand ein dünnes Drahtseil über den Weg, so dass er mit dem Pferd unglücklich stürzt und für lange Zeit ins Krankenhaus muss. Später verunfallt eine Frau tödlich, ein Junge wird misshandelt, eine Scheune brennt ab: Die Fälle häufen sich und der Herr Baron ruft nach dem Gottesdienst zu Wachsamkeit und Denunziation der Schuldigen auf. Während der Film aus dem Leben aller Dorfbewohner erzählt, von strengen Vätern, verzweifelten Müttern, einem verliebten Lehrer und schliesslich dem Herrn Doktor, der sich langsam die Sympathie des Publikums verscherzt, mit der unglaublich geringschätzenden Art, die er seiner Praxishilfe und Ersatzhausfrau angedeihen lässt, stellt sich der Lehrer langsam neue Fragen. Und die Kinder des Dorfes sind wirklich die Kinder des Dorfes, und sie werden es bleiben, denn nicht nur die Kirche bleibt im Dorf.
Das Weisse Band ist in leicht sepiagetöntem Schwarzweiss gefilmt, mit protestantisch strengen Bildern in einer protestantisch strengen Landschaft. Die Dorfkirche ist eine jener Gottesburgen, wie man sie so sonst nur noch in Dänemark antrifft, und Fremde gibt es keine im Dorf, abgesehen von zwei Kreispolizisten, die aber auch unverrichteter Dinge wieder abziehen. Wer jetzt eine Art Knochenmann erwartet, liegt allerdings völlig daneben. Das ist ein Haneke-Film, wenn auch mit einer neuen (oder alten?) aufdringlichen Zurückhaltung gefilmt, die mitunter an Hanekes Landsmann Ulrich Seidl erinnert. Allerdings sind die einzelnen Szenen hier ungleich kontrollierter, strenger und auch hinterhältiger gestaltet als bei Seidl. Und die beiden sprachlichen Ebenen, jene der Figuren und die des Erzählers, hetzen sich mitunter gegenseitig, auch wenn der Film unglaublich ruhig bleibt, angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die er erzählt.
Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber, ob das nun einfach ein beeindruckend kontrollierter Film ist, oder ein ganz grosses Meisterwerk.
Nachtrag 24. Mai: Die Kritiker-Jury von Fipresci hat sich für Meisterwerk entschieden und lässt den diesjährigen Cannes-Preis an Haneke gehen.
Lieber Michael
Ich kann Dir bei Deiner Meinungsbildung behilflich sein: Es ist ein Meisterwerk und hoffentlich in Cannes entsprechend gewürdigt werden
@wbl: … na, wenns der Filmverleiher sagt … ;)
Filmverleiher und andere blösche (louche?), finanziell interessierte Figuren sollten wohl nicht Filmekritik/en/er zu beeinflussen versuchen, die nötige kritische Distanz fehlt völlig ;-(
@mrc: Nanana, Filmverleiher sind im Idealfall begeistert von ihren Filmen und sollen das auch sagen dürfen. Und Kritiker kann man gar nicht beeinflussen, wir sind immun gegen Bestechung, Schmeichelei, vermittelte Interviews in Cannes, generellen Hype etc. Und wenn Du selber mit Kürzel zeichnest, ist es ein wenig louche, andere Kürzel zu outen ;)
und ein Meisterwerk ist es trotzdem!
Dumme, unkompetente Kommentare eines „mrc“ hin oder her.
Gruss
– inkompetent , natürlich
..leicht sepiagetöntem Schwarzweiss gefilmt..
stimmt nicht, der Film wurde auf Farbmaterial gefilmt und dann
in ein klares Schwarzweiss umgesetzt.
@fox: Der optische Eindruck einer Projektion kann täuschen, ich habe aber noch immer den Sepiaton vor Augen. Dass auf Farbe gedreht wurde, hat Haneke an der PK auch gesagt. Hast Du eine Quelle für deine Aussage? Wäre interessiert. Danke!
Der Film schafft jedenfalls eine Eindringlichkeit, wie es das zeitgenössische Horrorkino für sich immer nur reklamiert – und das andere Unbehagen bezieht sich wohl darauf, dass er (formal) zu sehr aufgeht.
Trotzdem: wie hier die mitleidlose Sittenstrenge eines (bigotten) Puritanismus, der zu dieser Zeit sicher auch in England, Amerika oder (in abgemildeter Form ?) unserer schweizerischen Ausprägung gedacht werden kann, sein Gewissen bekommt, ist grosse Klasse und fast nicht zu ertragen – quasi das Gegenstück zum Berührungskitsch à la Arthur C. (der gerade in Basel wieder sülzt).
Beeindruckende Bilder, aber letztlich leider nur eine Ansammlung von Kurzgeschichten ohne Auflösung und wenig Verbindung untereinander.
Nein, mein Film wars nicht. Als der Lehrer zum Abschluss sagte, er sei in die Stadt gezogen und haben keinen aus dem Dorf mehr wieder gesehen und danach das Bild schwarz wurde, war ich persönlich enttäuscht.