Es herrschen spannende Zeiten im Kino. Noch läuft die Diskussion um Quentin Tarantinos Nazi-Rache-Phantasie Inglourious Basterds, und schon schwappt die nächste Empörungswelle durch die Feuilletons. In die Diskussion um Lars von Triers Film Antichrist haben sich mittlerweile auch Autoren wie Daniel Kehlmann oder Elfriede Jelinek (in Cargo, und da gibts auch ein audiofile mit einem Gespräch mit Lars von Trier) eingeschaltet. Unerträgliche Frauenfeindlichkeit werfen dem Dänen die einen vor, die anderen loben die Radikalität seiner grausamen Natur-Vision. Einig sind sich aber alle darüber, dass Antichrist ein verstörender Film sei. Ich halte ihn gerade wegen seiner Sprengkraft für das erste filmische Kunstwerk seit langem.
Ziemlich spät im Film, im Wald, im Haus, in der Nacht, am Tag, hören wir ein Kind weinen. Seine Mutter (Charlotte Gainsbourg) hört es auch, dabei weiss sie, das Kind, das wir weinen hören, ist zu dem Zeitpunkt bereits tot. Aus dem Fenster gestürzt, während seine Eltern Sex hatten. Das Paar wird völlig auf sich selbst zurück geworfen. Die Frau will sich dem Schmerz überlassen, ihr Mann, ein professioneller Therapeut (Willem Dafoe), kämpft dagegen an. Die Natur sei kein Freund erklärt er ihr, die Natur wolle sie so heftig verletzen, wie sie nur könne. „Indem sie mich ängstigt?“ fragt die Frau. „Indem sie dich umbringt“, sagt er.
Das Paar zieht sich zurück in ein Blockhaus im Wald, und da verliert der Mann den Kampf gegen die Natur, während die Frau immer mehr ein Teil von ihr wird, eine Hexe, ein Teil des Chaos. Mit den schönsten Filmbildern seiner Karriere inszeniert Lars von Trier kindliche Urängste im dunklen Wald; die Höhle, den Fuchs, den Raben, das Reh und schliesslich den Estrich des Hauses, auf dem der Mann zu seinem Entsetzen tausende von Notizen seiner Frau zur Geschichte der Hexenverbrennungen findet. Mit ein paar kurzen, aber heftigen Schockszenen, darunter eine Selbstbeschneidung der Frau, und mit dem Filmplakat, welches das Letzte „T“ im Wort Antichrist als Weiblichkeitszeichen zeigt, hat sich Lars von Trier gezielt den Vorwurf der Misogynie, der Frauenfeindlichkeit eingehandelt:
Dabei provoziert der Däne einmal mehr genau dort, wo es wehtut, mit der Gehorsamen Aufregung über angebliche Misogynie halten sich seine Kritiker die wahren Schrecken des grossartig verstörenden Films vom Leib. Am Filmfestival von Cannes hat ein Kollege vom Regisseur empört eine Rechtfertigung verlangt, die hat von Trier natürlich verweigert und noch eins drauf gesetzt: „Ich habe nie die Wahl,“ sagte er provokativ, „es ist die Hand Gottes. Und ich bin der beste Regisseur der Welt. Allerdings bin ich nicht sicher, ob Gott der Beste Gott in dieser Welt ist…“, und in diesem Nachsatz steckt die Sprengkraft (im Original zu hören im Audiobeitrag am Ende dieses Textes). Denn Lars von Triers Antichrist stellt radikal alles in Frage, an dem wir uns festklammern in unserem Leben: Nicht nur die göttliche Ordnung, sondern auch die grundsätzliche Freundlichkeit der Natur, unsere zivilisatorisch-humanistische Selbsteinordnung. Was wäre, wenn Gott der Teufel wäre? So hätte seine ketzerische Frage vor zweihundert Jahren noch gelautet. Jetzt zeigt er uns das Chaos in unserer vermeintlichen Ordnung. Das ist verstörend, und wer davor Angst hat, sollte sich den Film lieber nicht antun. Aber ganz grundsätzlich ist Lars von Triers Antichrist der eindrücklichste, verstörendste und spannendste Film dieses Jahres, und das erste wirklich radikale Kunstwerk im Kino seit etlichen Jahren.
Hier noch einmal der Link zu meiner ersten Besprechung des Films vom Mai in Cannes.
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