Menschen kommen in James Bennings 120minütigen Monument vor allem indirekt vor. So wie der Amerikaner mit deutschen Wurzeln seinen Blick auf das Ruhrgebiet und dessen ihm noch unbekannte mögliche Essenz legt, hat sich wohl auch von den Einheimischen noch nie jemand gesehen. Als Eröffnungsfilm der aktuellen 33. Duisburger Filmwoche war Ruhr gestern Abend ein intensives, forderndes Erlebnis. Als TV-Erstaufführung auf 3sat heute Nacht um 23 Uhr wird der Film vor allem ein Experiment sein.
Im Kino sind wir gestern Abend drangeblieben, an den fixen Einstellungen Bennings. Wir haben unsere Blicke, manchmal auch leise stöhnend, über die grosse Leinwand geschickt, das Bild mit den Augen scannend, immer in der Hoffnung, es möge was passieren, es solle sich etwas erschliessen, und manchmal passierte etwas, und meistens erschloss sich etwas. Was also wollte der Amerikaner uns sehen machen? Was kam da auf die Leinwand?
Eine Reihe radikal fixierter Einstellungen. Teil 1 von Ruhr besteht aus 6 plans fixes, bei denen die HD-Kamera fest aufgestellt einen sorgfältig ausgesuchten Ausschnitt eines Ortes im Bild behält, jeweils ca. 10 Minuten lang:
- Ein Abschnitt eines Tunnels, durch den ganz selten ein Auto fährt und einmal ein Velofahrer
- Die Halle eines Eisenwalzwerkes, wo im Hintergrund frische Roheisenrollen glühend anschiessen, im Vordergrund die abgekühlten geschaukelt werden
- Ein Stück Herbstwald, das sich als Teil einer Flughafenabflugschneise entpuppt (wer hätte gedacht, dass wir uns das nächste Flugzeug herbeisehnen vor lauter Wald im Bild?)
- Muslime beim Gebet in einer Ruhr-Moschee. Solange sie knien, sehen wir die Halle und den Priester, stehen sie auf, verdecken sie den Blick. Gegen Ende der Einstellung beschleunigt und individualisiert sich der Rhythmus des Aufstehens und niederkniens
- Die Sandstrahlreinigung einer Eisenplastik von Richard Serra, der Bramme für das Ruhrgebiet, die ein einzelner Spezialist mitten im Feld geduldig Quadratzentimenter für Quadratzentimeter von Sprayereien befreit.
- Eine Quartierstrasse im Herbst, mit grauverputzen Häusern und ein paar Menschen, insbesondere einer alten Frau mit einem alten Hund, welche vorbeigehen.
Dann folgt der Teil 2, die fixe Einstellung auf einen viereckigen, schrötigen Kühlturm eines Kokswerkes im gelben Abendlicht. Es dampft ein wenig aus dem riesigen Turm heraus. nach zehn Minuten quillt der Dampf aus allen Ritzen und der Turm speit Wolken wie ein Vulkan. Das wiederholt sich bis zum Ende der zweiten Stunde und dem Eindunkeln noch vier Mal.
Ruhr ist, je nach Ausgeschlafenheit und Abenteuerlust, eine grossartige Zumutung, oder ein Film, der einen zum Schauen zwingt. Selten habe ich die Struktur eines Strassentunnels so genau examiniert, wie hier in der ersten Einstellung. Was soll man auch sonst machen, wenn minutenlang so sehr nichts passiert, dass man sich dann sogar über das Vorbeifahren eines Kleinwagens richtig freut? Oder wenn man das lichte Stück Herbstwald kaum mehr wahrnimmt, weil man dauernd auf ein Einhörnchen hofft und auf das nächste startende Flugzeug? Und doch ergibt sich ein Bild, eine Vorstellung. Was ich vom Ruhrgebiet zu wissen glaube, und was ich da sehe, verdichtet sich zu neuen Ahnungen. In Teil zwei öffnet sich freilich die Assoziationswelt noch radikaler. Der dampfende Turm im Abendlicht erinnert nicht nur an Andy Warhols Empire, sondern ganz klar auch an die rauchenden Twin Towers in New York und die sechzig Minuten dieser Einstellung sind lang genug (und jeweils beim eruptiven Abdampfen alle zehn Minuten auch stark genug) um neben dem Sehen auch das Denken anzukurbeln. Ruhr ist ein ziemlich einmaliges Kinoerlebnis. Auf dem Fernsehschirm allerdings dürfte sich die Wirkung verlieren, eine Wohnung bietet einfach zu viele Ablenkungsmöglichkeiten.
Ein starker, radikaler und sehr lokalisiert-globalisierter Auftakt zur Filmwoche 33.
Bennings Film hat mich erstaunt, mir einen anderen Blick aufs Ruhrgebiet gegeben. Einen stillen, prägnanten, ruhigen industriellen Blick. Doch frage ich mich: Wie kommen die langen Einstellungen bei denen an, die das Ruhrgebiet gar nicht kennen? Was denkt der Betrachter, wenn er die Geräusche aus der Kokerei zwar hört (sie erinnern ein wenig an die Einsatzwagen in NYC, sie aber gar nicht zuordnen kann? Verändert das nicht auch die Betrachtungsweise? Stahl ist untrennbar mit dem Ruhrgebiet verbunden, auch manch schäbige Ecken in Essen oder woanders. Doch auch das Ruhrgebiet hat sich verändert, ein Blick aufs Moderne wäre auch sehenswert gewesen. Nachdenklich machen mich die Szenen, wo Wirklichkeit verändert wurde, wo aus einer vollen Straße eine leere wurde. Damit sie besser ins Konzept passt. Darf das Dokumentarfilm?