Er ist tatsächlich gekommen, der Rockstar mit seinem Erstlingsfilm. Lou Reed ist trotz Aschewolke und Flugverboten nach Nyon gefahren, im Zug aus London, um heute Abend seinen ersten (und nach seiner Aussage auch letzten) Dokumentarfilm vorzustellen: Red Shirley, ein 28 Minuten langes Porträt seiner mittlerweile 101 Jahre alten Cousine. Es müsste nicht sein letzter sein, Red Shirley ist nicht nur ein berührendes Portrait einer alten Jüdin, die mit 19 Jahren ganz alleine aus Polen nach Kanada emigriert ist, und von dort nach nur sechs Monaten weiter nach New York, sondern auch ein (von Ralph Gibson) ansprechend gefilmtes, sehr dicht geschnittenes und vertontes (da kommt Lou Reeds eigene Expertise ins Spiel) rundes Werk. Die in einzelnen Momentaufnahmen aus ihren Erzählungen evozierte Sicht auf das Leben einer als oppositionelle Gewerkschafterin, also als „rote“, gegen die korrupte Union kämpfende, unerschrockene Frau, die unter anderem auch am Million Man March gegen die Segregation nach Washington dabei war, fügt sich zu einem ansprechenden kurzen Film, der keineswegs abfällt unter den übrigen in Nyon gezeigten Werken.
Ein wenig abgefallen ist dagegen die Solopräsentation des Stars mit seinem Film. Wahrscheinlich hätte Lou Reed einen besseren Auftritt gehabt, wäre er wie alle anderen Filmemacher vor seinem Film kurz vorgestellt und danach ins Gespräch genommen worden. Aber das war natürlich nicht mehr möglich, nachdem sein Kommen zu den Verkaufsschlagzeilen des Festivals geworden war. Vor der Filmvorführung sah man einen erschreckend unsicher gehenden, gebrechlich wirkenden alten Mann auf die Bühne kommen, und auch danach wirkte Lou Reed so lange fragil, bis er mit lang ausgestreckten Beinen auf der Bühne im Sessel sass und in seiner charakteristisch langsamen, rhythmischen Sprechweise langsam Fahrt aufnahm. Nur selten hat man bisher Festivaldirektor Jean Perret so sichtlich bemüht und gleichzeitig unsicher erlebt: Es ist ja auch nicht einfach, einen anerkannten Künstler zu seinem brandneuen Erstlingswerk ernsthaft und doch vorsichtig zu befragen.
Dabei kam es zunächst von der Seite Reeds zu wenig mehr als Platitüden, immerhin machte er klar, dass ihn wirklich das Interesse an der alten Frau getrieben hatte, er redete sich selber sichtlich in neue Begeisterung beim Paraphrasieren der Aussagen seiner Cousine im Film.
Als Zugabe las Reed dann einige seiner Texte, ungewohnt monoton, so als ob sie noch auf die Musik warten müssten. Hier eine kleine Hörprobe (mit Saalhall):
Und danach, obwohl eigentlich nur schriftliche Fragestellungen über kleine Pinkslips im Publikum geplant gewesen war, meinte er, nun da er schon über acht Stunden im Zug gesessen hätte, wäre es ja schade, schon wieder aufzuhören, und erklärte sich bereit, Publikumsfragen zu beantworten.
„Maybe this wasn’t such a good idea“, war dann allerdings seine erste Antwort, als eine Frau aus dem Publikum die reichlich absurde Frage stellte, was aus der Mandoline geworden sei, die Shirley ihrer Erzählung nach aus Kanada nach New York mitgebracht hatte… erst als die britische Filmemacherin und Jurymitglied Molly Dineen ihn nach der Fokusführung beim Filmen fragte und ihn (beziehungsweise Kameramann Gibson) für die raffiniert geschichtete Tiefenschärfe komplimentierte, taute Reed wieder auf und freute sich, den Trick mit den Freeze-Frames zu erklären: Einzelne Einstellungen hätten ihm dermassen gut gefallen, dass er sicher stellen wollte, dass niemand das Bild verpasse – und darum hätten sie sechs Einstellungen im Film schlicht und einfach zu Standbildern gefrieren lassen – ein Kniff, der dank HighDef tatsächlich erstaunlich wirkungsvoll funktioniert.
Eine Stunde hatte das Publikum vor dem Theatre de Marens in Nyon geduldig gewartet, um die New Yorker Rock-Ikone zu erleben – und dann zeigte sich, dass da im Saal eben doch nicht das übliche, alerte, dokfilmaffine und neugierige Publikum des restlichen Festivals sass, sondern vor allem Fans und Neugierige, denen es nicht ganz gelang, Lou Reed als Filmemacher so ernst zu nehmen, wie er es verdient hätte. Der stärkste Augenblick ausserhalb des Films war denn bezeichnenderweise auch jener, als Reed sich über den starken Boom (Hall) seines Mikrofons beklagte und den Menschen am Mischpult aufforderte, etwas dagegen zu unternehmen. Da sprach die anerkannte Autorität, und für kurze Zeit war die allgemeine Verunsicherung überwunden.