My Joy ist der englische Titel von Sergei Loznitsa Schastye Moe. Und damit ist das sprachlich die gleiche Figur wie Biutiful bei Iñárritu. Denn Joy, das Vergnügen, ist bei diesem Film des Ukrainers ausschliesslich auf der Seite des Publikums – so es den Magen und den Humor dafür hat. Die Geschichte eines jungen Lastwagenfahrers, der mit einer Ladung Mehl zu einer immer absurderen und gewaltvernagelteren Odyssee aufbricht, beginnt schon damit, dass das Publikum lebendig begraben wird. Das geht ganz einfach: Die erste Einstellung zeigt den schmatzenden Inhalt eines Zementmischers, dann wird ein Toter in einen Graben geschmissen und schliesslich schaufelt ein monströser Bagger Erde über die Kamera bis die Leinwand dunkel ist. Das ist ein Einstieg in den Orkus, der an David Lynchs Eindringen in das abgeschnittene Ohr in Blue Velvet erinnert. Auch sonst hat der Film etwas von Lynch, er ist enigmatisch und unterhaltsam wie Mulholland Drive, hat eine leicht von der Odyssee geprägte Erzählstruktur, mit einem Hauch von Cold Mountain (bloss viel, viel besser) und zugleich ein Echo von Oh Brother, where art thou?
Es wird nie erklärt, warum der junge Mann überhaupt aufbricht. Aber es gibt viele Binnenerzählungen von missbrauchtem Vertrauen; ständig werden Menschen von anderen umgebracht, totgeschlagen, homo homini lupus, und die Hauptfigur Gyorgy macht dabei einen umgekehrten Kaspar Hauser: Aus dem liebenswürdigen jungen Mann, der eine Kinderprostituierte mit Essensgeld heim zu ihrer Mutter schicken möchte, wird im Verlauf des Films ein stummer, bärtiger Waldschratt, der schliesslich, ganz am Ende, selber den reissenden Wolf macht.
Der vor allem mit deutschem Geld von Arte und ZDF produzierte Film spielt in der Ukraine und springt nicht nur zwischen den Zeiten umher, sondern mäandert auch von Figur zu Figur, ohne Gyorgy je ganz aus den Augen zu lassen. Allerdings macht sich die Kamera zwischendurch auch mal selbständig, lässt eine Figur aus dem Bild und folgt einer anderen in den Wald, nur, um gleich wieder das Interesse zu verlieren und einer alten Frau nachzuschwenken, die gerade auf dem gleichen Weg ist.
Obwohl man etwa nach der dritten Begegnung weiss, dass jedes vertrauensvolle Entgegenkommen von den anderen Menschen gnadenlos missbraucht werden wird, ist das nie vorhersehbar, langweilig oder gar dogmatisch. Der Film reitet keine Prinzipien, sondern sein Publikum. Und es ist ein Ritt, den man sich gerne gefallen lässt, nüchtern märchenhaft, russisch grotesk und letztlich ganz im Vertrauen darauf, dass die Güte der Opfer die Gewalt der Täter einfach übertreffen muss.
Insofern steht dieser Film Rücken an Rücken mit Biutiful. Auch Loznitsa hat da etwas einzigartiges geschaffen, und wenn ich so viele Vergleiche zur Beschreibung beiziehe, dann nur, weil es schwer ist, das Erlebnis in Worte zu fassen. Ich bin ähnlich verblüfft und beglückt aus dem Kino gekommen wie 2001 hier in Cannes nach der Premiere von Lynchs Mulholland Drive.