Locarno 10: AU FOND DES BOIS von Benoit Jacquot

Isild le Besco in 'Au fond des bois' von Benoit Jacquot
Isild le Besco in 'Au fond des bois' von Benoit Jacquot

Da mokiert sich unsereins immer mal wieder über die braven Eröffnungsfilme der Festivals, jene massengängigen Vehikel, die auch den Sponsoren und den anwesenden Politikern zu gefallen haben, und dann dies! Olivier Père, der neue künstlerische Leiter des Festivals von Locarno, hat schon mal die Krallen ausgefahren und einen Eröffnungsfilm programmiert, der manche ratlos, viele verägert und einige wohl auch empört haben dürfte. Dabei ist Benoit Jacquots Au fond des bois ein Film in einer langen Tradition. Es ist eine Adoleszenz-Fantasie, eine männliche Projektion auf das Erwachen weiblicher Sexualität, eine Rotkäppchengeschichte. Das Rotkäppchen in diesem Film trägt allerdings vorzugsweise unschuldiges Weiss, wird gespielt von der aparten Isild le Besco, und sie wird von ihrem Ver- oder Entführer immer wieder vergewaltigt, ohne dass die Kamera sich zurückziehen würde. Aber fassen wir doch zuerst einmal die Geschichte zusammen:

Josephine ist die Tochter eines atheistischen, aber überaus menschenfreundlichen Landarztes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Timothee, ein Vagabund, eine Art Waldjunge, hat ein Auge auf sie geworfen, schmeichelt sich bei ihrem Vater ein, schlägt das Mädchen hypnotisch in seinen Bann und vergewaltigt sie in der Küche – worauf sie ihm in den Wald folgt, wo er sie immer und immer wieder missbraucht. Vordergründig ist das die Verfilmung einer Chronik, eines Gerichtsfall, in dem ein Mädchen ihren Verführer/Vergewaltiger magischer oder magnetischer Tricks bezichtigt haben soll. Inszeniert hat das Benoit Jacquot aber im Gefolge der langen Reihe von Filmen, die dem Rotkäpchen Schema folgen, dem Mädchen, das seiner erwachenden Sexualität in den Wald folgt wie dem Wolf, dem Werwolf in Neil Jordans The Company of Wolves, dem Einbrecher und den Mördern wie Stefanie in Mathieu Seilers Stefanies Geschenk, dem Mann im Schrank in der aktuellen Schweizer Version Pinprick, oder gar in die Märchenwelt wie Jennifer Connelly in Jim Hensons Labyrinth von 1986.

Allerdings setzt Jacquot in seinem Film zwar immer wieder auf symbolistische Momente, in erster Linie aber auf einen drastischen Realismus, der eher an Tom Tykwers missratene Parfum-Verfilmung erinnert, als an die oben aufgezählten, meist ziemlich verspielten (Männer-) Phantasien. Der Film hat durchaus seine Momente. Die Vergewaltigungen sind feministische Alpträume, zumal sich das Opfer eben langsam als wieder-willig erweist und zum Schluss hin das Instrument seiner Initiation verrät (sein Kind allerdings behält). Aber die paar Szenen, in denen die Machtverhältnisse sich verkehren, der Missbraucher zum Missbrauchten wird, oder zumindest die Kontrolle an sein Opfer verliert, die sind eindrücklich gebaut und auch gespielt.

Alles in allem aber ist Au fond des bois eine Variation auf ein Thema, welche oft zu weit geht, im entscheidenden Moment dann aber wieder zu wenig weit. Der Film ist oft sehr unangenehm (was sicher zum Konzept gehört), verpasst aber, die Energie, den Ärger oder den Hass, den er dabei erzeugt, in eine brauchbare Bahn zu lenken. Und über die einzige wirklich sympathische Figur, den wohlmeinenden Arzt und Vater, macht er sich gnadenlos lustig.

Als Spielfilm ist Au fond des bois kein Glanzstück, auch nicht in Jacquots Filmografie. Als Eröffnungsfilm für Locarno allerdings ist das ein Signal, eine Art „no more Mr. Nice Guy“, eine Kampfansage an die Feriencinephilie und ein Versprechen an all jene, die sich gerne herausfodern lassen im Kino. Ich hoffe allerdings sehr, die nächsten Herausforderungen seien ihren Energieaufwand eher wert.

Au fonds des bois

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