Olivier Père, der neue Direktor von Locarno, hat den Wettbewerb des Festivals nun nach dem Vorbild von Cannes ebenfalls für Dokumentarfilme geöffnet und dem gleich mit einem Sechsstünder Nachdruck verlliehen. Karamay ist eine Stadt in der uigurischen Provinz der Volksrepublik China. 1994 sind in der grossen „Freundschaftshalle“ der Ölarbeiterstadt 323 Menschen im Feuer umgekommen, 288 von ihnen Schulkinder zwischen 6 und 14 Jahren. Wie viele Katastrophen in China wurde auch diese von den Funktionären so gut wie möglich aus der Geschichte getilgt, die Hinterbliebenen, insbesondere die Eltern der toten Kinder, kämpfen seit damals um die offizielle Anerkennung – nicht einmal Totenscheine wurden ausgestellt. Xin Xu gibt nun diesen Hinterbliebenen die Gelegenheit, ihrer Wut, ihren Ängsten und ihren Erinnerungen endlich freien Lauf zu lassen, vor einer fix aufgestellten Kamera. 356 Minuten sind viel für einen Dokumentarfilm, aber nichts, angesichts der Tragödie, die hunderte von Leben auslöschte und viele für immer veränderte.
Radikal ist das vor allem darum, weil die meisten dieser Menschen nie öffentlich und offiziell so über die Geschichte reden könnten und dürften. Immer und immer wieder wird betont, dass die Kontrolle durch die Funktionäre der Stadt und der Provinz, aber letztlich auch der Zentralregierung absolut sei. Das legt die Vermutung nahe, dass die Aufnahmen zuerst einmal unter Zusicherung von Diskretion entstanden sind, wohl mit dem Hinweis auf die bisherige Arbeitsweise von Xin Xu und der Absicht, den Film im Ausland zu zeigen. Leider hatte ich heute Sendung während der Pressekonferenz zum Film.
Formal zerreisst der Film keine Stricke, er setzt ein mit einem Gang über den Friedhof und zeigt dann vor allem die redenden Menschen in Schwarzweiss, mit gelegentlichen erklärenden Untertiteln zu den etablierten Fakten und mit dazwischen geschnittenen privaten Videoaufnahmen von 1994 sowie aufgezeichneten Fernsehnachrichten der offiziellen Sender. Aber die immer und immer wieder aufgenommene Erzählung bringt immer mehr Facetten der Tragödie zum Vorschein, Vermutungen, Spekulationen und Fakten, stets getragen vom Schmerz und der Wut der Erzählenden, so dass es effektiv schwer fällt, den Kinosaal zu verlassen, und sei es nur für einen Schluck Wasser.
Natürlich hätten diese sechs Stunden Material auch auf die üblichen neunzig Minuten zusammengeschnitten werden können, der reine Informationsgehalt wäre wohl der gleiche geblieben. Aber die emotionale Wucht bliebe auf der Strecke und die ganze Denkarbeit, die ich als Zuschauer im Saal sechs Stunden lang leiste sowieso.
Karamay ist ein starkes Kinoerlebnis und damit ein starker Dokumentarfilm. Nur schon darum, weil man wohl stundenlang streiten könnte darüber, ob diese schiere Menge an Bildern und Tönen jetzt eher furchtbar sei oder doch vor allem fruchtbar.
Dass die Rezeptionsgeschichte dieses Film letztlich wohl fast interessanter sein dürfte als die Beschreibung seiner Machart, versteht sich von selbst. Die Wirkung des Films ist auf jeden Fall nicht nur eine individuelle für Protagonisten und Zuschauerinnen, sondern letztlich auch eine kollektive, mehr als bei vielen anderen Filmen.