Cannes 11: POLISSE von Maïwenn

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Maïwenn Le Besco arbeitet, anders als ihre Schwester Isild, nur unter ihrem Vornamen – als Schauspielerin, aber auch als Filmemacherin. Für Poliss hat sie das ursprüngliche Script geschrieben, fasziniert vom Alltag einer Kinderschutzeinheit der Polizei, ging dann aber zum Produzenten Alain Attal damit und der holte Emmanuelle Bercot als Autorin dazu. Was wir nun heute (als dritten Film im Wettbewerb und als dritten Film von einer Frau) gesehen habe, ist ein hochpoliertes, rasantes Stück Realitätskino im Stil von Entre les murs von 2008, Dokufiktion der neueren Schule, mit geschliffen realistischen Dialogen, geschickter dramaturgischer Abfolge hochdramatischer und leise alltäglicher Szenen – und mit einem Stoff, der den ersten beiden Filmen in Sachen inhärentem Horror in nichts nachsteht. Pädophile, sexuelle Übergriffe, Junkie-Mütter, selbstherrliche Muslim-Väter, sie alle gehören zum Alltag dieser aus Frauen und Männern zusammengesetzten Einheit, die in ihre Aufgabe in erster Linie im Schutz der Kinder sieht.

Dabei übernimmt das Drehbuch die bekannte Schematik der Police- und der Cop-Movies, zeigt dramatischen Alltag, Ausnahmesituationen und die familiären und amourösen Verstrickungen unter den Männern und Frauen. Und ihren manchmal wild anmutenden Humor, den Maïwenn für die einzige Waffe zum Schutz vor der Verzweiflung hält, welche diesen Menschen zur Verfügung steht.

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Die Truppe ist dramagerecht (und wohl auch realistisch) zusammen gewürfelt, einzig die von Maïwenn selber gespielte Fotografin, welche den Alltag im Auftrag eines Ministeriums dokumentieren sollte, bietet eine katalytische Funktion – dafür bleibt sie ein Fremdkörper im Film, Maïwenn verkörpert wörtlich ihren eigenen Blick.

Poliss Maïwenn

Mit 127 Minuten ist der Film lang, aber er lässt nie locker und entwickelt jenen Sog, den wir mittlerweile von den besten Fernsehserien gewohnt sind. Damit rückt die Arte-Koproduktion auch in die Nähe von Olivier Assayas‘ Carlos, welcher hier in Cannes letztes Jahr gezeigt wurde. Ich bin allerdings nicht sicher, ob der Vergleich nicht hinkt, denn Carlos war ein Versuch, ein geglückter, mutiger, während Poliss eine Spur zu glatt, zu poliert, zu unterhaltsam auch daherkommt. Im Prinzip stimmt alles, die Dialoge, die schauspielerischen Leistungen, die Dramaturgie, das Tempo – sogar die sehr lang hingezogene Tanzsszene, in der die Truppe das gerettete Leben eines Babys feiert: Es entspricht unseren „neuen“ Sehgewohnheiten, welche die amerikanischen Fernsehserien etabliert haben, diesem Eindruck von einer Realität, die nie locker lässt, immer spannend bleibt, keine Redundanzen aufweist und voller Überraschungen steckt. Mit anderen Worten: Poliss macht das, was das Kino immer schon am besten konnte, auf jene Art, wie es heute das Fernsehen tut. Und die Zeiten, in denen ein solcher Satz etwas Abschätziges gehabt hätte, sind längst vorbei. Bloss fehlen mir, im Vergleich zu We need to talk about Kevin oder Sleeping Beauty in diesem Film die grossen Bilder, jene, die auf der Netzhaut nachbrennen, anders als Dialoge und Situationen.

'Poliss' von und mit Maïwenn (2. von links)
'Poliss' von und mit Maïwenn (2. von links)

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