Cannes 11: LE GAMIN AU VÉLO von Jean-Pierre et Luc Dardenne

Thomas Doret, Cécile de France ©xenix
Thomas Doret, Cécile de France ©xenix

Ist das jetzt ein dardennifizierter Spielfilm oder ein verspielter Dardenne? Im Kern bleiben die Brüder dem menschlichen Drama treu, dem sie ihre bisherigen Filme gewidmet haben. Der nicht ganz zwölfjährige Cyril weigert sich zunächst zu glauben, dass ihn sein Vater einfach im Kinderheim zurückgelassen hat, dann findet er in der resoluten Coiffeuse Samantha eine Ersatzmutter – bis er sich einen lokalen Kleindelinquenten als Vaterersatz aussucht und selber delinquiert. Uff. Faszinierend ist nach wie vor, wie die Brüder vor dem stillen Schrecken im Leben nicht zurückzucken. Faszinierend ist ebenfalls, wie Cécile de France die unerschütterliche Ersatzmutter als Coiffeuse spielt, mit zweifarbigem Haar und Leopardendruckbluse. Und faszinierend schliesslich das Wiedersehen mit Jérémie Renier, dem Rabenvater aus L’enfant, in der Rolle des Rabenvaters.

Wie immer bleiben die Dardennes an ihrer Hauptfigur dran – aber nicht mehr mit letzter Konsequenz, es gibt in diesem Film Szenen, in denen Thomas Doret nicht zu sehen ist, wenn auch nicht viele.

Jérémie Renier, Thomas Doret
Jérémie Renier, Thomas Doret

Und wie gewohnt geht die Intensität der Verzweiflung beim Protagonisten zeitweise über die Schmerzgrenze des Publikums hinaus. Was aber ungewohnt wirkt, ist der Mutter-Engel, den Cécile de France verkörpert, diese Frau, die im tobenden Kind nicht den Satansbraten sieht, sondern die Verletzung, die Frau, die – vor die Wahl gestellt – ohne zu zögern eher auf ihren Freund verzichtet als den Jungen im Stich zu lassen.

Cécile de France, Thomas Doret

Von einem Melodram zu schreiben, wäre nach wie vor absurd, auch wenn die Nacherzählung der Handlung den Gedanken ans Melodram unvermeidlich werden liesse. Das ist nach wie vor überaus ernsthaft, intensiv, realistisch und direkt. Und schliesslich haben Jean-Pierre und Luc Dardenne schon in ihren früheren Filmen immer Raum für Hoffnung gelassen. Warum also wirkt das diesmal eher abgerundet als perfektioniert? Wenn man dann liest, dass die Brüder sich eine Art modernes Märchen vorgestellt haben, mit Bösewichten, welche den Helden vom Weg abbringen wollen, und einer guten Fee vielleicht… dann leuchtet das alles gleich wieder völlig ein. Humor hatten sie schon immer, bloss in der Regel eher im Interview als im Drehbuch. Diesmal kriegt sogar der obligate Olivier Gourmet eine Cameo-Rolle als Kneipier und ich habe halbwegs erwartet, irgendwo an einem der Kneipentische im Hintergrund den Zigarillo rauchenden Bruder (weiss nie, welcher der beiden es ist) sitzen zu sehen. Was natürlich nicht eintritt. Das ist der erste Dardenne-Film der im Sommer spielt und auch im Sommer gedreht wurde. Und sogar Musik ist drin, orchestral und mächtig, aber stets nur über ein paar Akkorde.

Die Dardenne-Brüder haben etwas neues aus dem alten heraus entwickelt. Nicht ihr Fehler, dass das nun näher beim gewohnten Erzählkino landet, als wir es erwartet hätten. Sehenswert und eindrücklich ist der Film nach wie vor. Und um an Altersmilde zu denken sind die Brüder mit Jahrgang 1951 und 1954 doch noch eine Spur zu jung. Es lebe die Hoffnung und die Pflegemutterliebe.

Jean-Pierre et Luc Dardenne ©xenix
Jean-Pierre et Luc Dardenne ©xenix

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