Autsch. Da macht Terrence Malick nach Jahren sein lange ruhendes opus magnum fertig – und dann dies! Ein Hochamt auf das weisse US-Mittelklassevorstadtleben mit seinem Potential für Schmerz und Gottesglauben. Im Kern erzählt er die Geschichte einer MacDonalds-Werbung-Zielgruppenfamilie, bestehend aus Papa Brad Pitt, Engelsmama und drei Söhnen. Der Film eröffnet – nach etlichen Canyonaufnahmen, Sonnenaufgängen, Eclipsen und Meereswellen – mit der Meldung vom Tod des ältesten Sohnes, zu dem Zeitpunkt offenbar 19 Jahre alt. Es folgt eine protobiomakro-evolutionäre Erdsequenz, in der sich scheue Dinosaurier tummeln, bis ein Komet ihnen das Ende ihrer Zeit bringt. Alles dauernd unterlegt von existentiellen Fragen an Gott auf der Tonspur: Warum? Wann habe ich Dich erkannt? Wo bist Du?
Die erste Stunde dürfte das Esoterik-Bedürfnis sämtlicher Hockey-Moms rund um Sarah Palin, der Kreationisten und der kulturell nicht völlig unterbelichteten Tea-Party-Mitglieder abdecken und einen grossen Teil von ihnen zu Tränen rühren.
Was Sean Penn als erwachsene Version des jüngeren Bruders in dem Film genau macht, bleibt rätselhaft – ausser, dass auch er einige der Fragen an Gott aus dem Off beisteuert. Schwarze Menschen kommen als ferne Statisten, als erzieherisch wertvolles Beispiel für die Tragik der Armut und in zwei drei Einstellungen als Hände in Grossaufnahme vor.
Gegen Ende der ersten Stunde begann ich, auf die Einblendung eines Markenlogos zu warten, die Feier des suburbanite circle of life kennt keine geschmacklichen Grenzen. Die Naturaufnahmen sind zu grossen Teilen atemberaubend, aber mit den digitalen Dinos erschüttert Malick das Vertrauen in diese Bilder nachhaltig.
Schliesslich beginnt dann aber doch der mittlere Teil des Films, der die Kindheit in den paradiesischen Bildern schildert, die unbedingte Liebe der Mutter, die fürsorgliche Strenge des Vaters. Bis diese Strenge tyrannische Züge annimmt und klar wird, auch diese Familie hat so ihre Probleme. Die resultieren aber vor allem aus der Diskrepanz von Realität und amerikanischem Lebensentwurf bei Papa. Der wollte Musiker werden, machte dann aber doch als Ingenieur Karriere. Musik macht er noch am Piano zuhause und als Organist in der Kirche jeden Sonntag morgen. Schliesslich aber wird eine Fabrik geschlossen (der Film spielt in Waco, Texas), Vater verliert seine Stelle und das Vertrauen in seine Kräfte, erklärt seinem Sohn, er sei nur darum immer so streng gewesen, weil er ihm ein unabhängiges Leben auf eigenen Füssen habe ermöglichen wollen.
Und dann folgt noch eine Coda, ein weiterer Ausflug in bedeutungsvoll aufgeladene Sequenzen, in denen Sean Penn in der Felsenwüste durch einen leeren Türrahmen treten muss und sich selber als Kind wieder begegnet.
Mir persönlich genügen die letzten zwanzig Minuten von Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey noch für Jahre, um das von Malick hier beackerte Feld abzudecken. Und nach diesem Tree of Life freue ich mich jetzt erst Recht auf den Weltuntergang, den uns Lars von Trier für den nächsten Mittwoch mit Melancholia verspricht.
Michelangelo hat einige seiner Skulpturen nicht zuende geführt. In Florenz sind sie zu besichtigen – Gestalten, die überwiegend noch im Stein gefangen sind. Das, was man sehen kann, ist großartig, intensiv, mehr als beeindruckend und unglaublich schön. In diesem Sinne ist Malick der Michelangelo der Filmkunst: Im Fels eines 138 Minuten langen Films verbirgt sich ein etwa anderthalbstündiges Meisterwerk – fast verschüttet von einem metaphysischen Naturfilmexkurs am Anfang und einer sinn- und geschmacklosen Kitsch-Eruption am Ende. Irgendwann werde ich mir diesen Film digital vornehmen und nur ganz für mich neu schneiden, bis der Blick frei ist auf dieses unglaubliche Kinokunstwerk, das uns Terrence Malick vorenthalten hat. (mehr am nächsten Mittwoch in unserem Podcast)
Michael Sennhauser zugeeignet
Sehr geehrter Herr Sennhauser,
vielen Dank für diesen kurzen und knackigen Filmabriss. Nach all den Lobeshymnen auf The Tree of Life (zB auch bei der Kulturzeit) wurde ich vor kurzem leider selbst Opfer dieses pseudopathetischen Machwerks.
Wußten Sie im Übrigen dass Malick der Philosophie Martin Heideggers nahe steht ?
Bereits beim Sehen des Films beschlich mich so ein Gefühl, dass dieser existentialistisch-affirmative Einschlag nicht einfach vom Himmel der Esoterik gefallen ist.
Mit diesem Wissen wird Malicks Operette dann vollends gläsern und man sieht durch den Film hindurch auf die Abgründe positivistischer Seinsbeschauung.
@sure, not: Wenn Ihnen mein Ärgertext gefallen hat, dürfte dieser hier sie wohl eben so begeistern wie mich: http://print.perlentaucher.de/artikel/7000.html
„Es ist die biblische Schöpfungsgeschichte – Scheidung von Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Himmel und Erde, Wasser und Land -, übersetzt in die Sprache der Wissenschaft und bebildert von einer an New Age, National Geographic und Jurassic Park geschulten Erdkundelehrer-Phantasie“
herrlich
O hätte ich Ihren Text doch bloß vorher gelesen – stattdessen habe ich gestern versucht, den Film anzuschauen („einfach mal drauf einlassen“ und so). Während ich mich noch fragte, ob das alles wirklich ernst gemeint sei, tauchten die unfreiwillig komischen Dinos auf. Da war dann klar: doch, das ist wirklich ernst gemeint. Sogar bitter ernst. Nach einer knappen Stunde musste ich den Selbstversuch abbrechen, es ging einfach nicht mehr. Zur Erholung schaute ich danach eine frühe Folge von MASH, um das klebrige Gefühl wieder loszuwerden (was wunderbar funktioniert hat).
Dank Ihrer (und der verlinkten) Kritik weiß ich jetzt, warum mir ständig Todd Solondz‘ „Palindrome“ durchs Hirn spukte (Stichwort „christlicher Fundamentalismus“, na klar). Der ist zwar auch quälend anstrengend, verschont einen aber wenigstens mit komplett humorfreiem Pathos-Overkill, oder anders gesagt: Da raunt und dräut es nicht unentwegt vor sich hin, dass es einem nur so graust.