Wenn man schon die Wunder im Namen trägt, wie Milagros Mumenthaler, dann darf man sein Publikum auch mit einem traumartigen Film beglücken. Sonst natürlich auch. Abrir puertas y ventanas zeigt drei fast erwachsene Schwestern, die im grossen Haus ihrer kürzlich verstorbenen Grossmutter leben und dem Sprung in die erwachsene Selbständigkeit entgegen zögern.
Ein Dreimädchenhaus, sozusagen, aber ohne Kitsch und Süssigkeit, im Gegenteil. Das Teenager-Leben ist ohnehin nicht einfach, noch komplizierter aber wird es, wenn man sich alle Grenzen selber setzen muss. Von der Ausgangslage her erinnert der Film ganz leise an Sofia Coppolas The Virgin Suicides, aber das liegt vor allem am Haus voller Mädchen.
Es ist Herbst in Buenos Aires, und die Schwestern haben alphabetisch nach Alter geordnete Namen. Marina ist die älteste, sie studiert, überwacht und macht den Haushalt und kontrolliert die Finanzen. Sofia geht zur Schule, kümmert sich vor allem um sich selber und ihre Garderobe. Und Violeta schliesslich, die jüngste (und Schönste), hat einen Freund, einen Musiker, von dem die anderen nichts wissen. Und schliesslich ist sie es auch, welche eines Tages einen Abschiedsbrief hinterlässt, sich vom Flughafen aus auf dem Telefonbeantworter verabschiedet und damit die beiden älteren Schwestern aus ihrer Routine ins Chaos schüttelt.
Aber eigentlich ist das kein Film, der von einer Handlung getragen wird. Es sind Szenen, Stimmungen, Blicke, Momente des Einverständnisses und Augenblicke voller Gemeinheit, wie sie unter Geschwistern üblich sind – in einem Haus ohne Korrektiv, ohne elterliches Schiedsgericht, ohne die sonst mögliche Verantwortungs- und Konsequenzenlosigkeit.
Milagros Mumenthaler ist in der Westschweiz aufgewachsen, zog aber mit 18 für zwei Jahre zu ihrer Grossmutter in Argentinien. Und Argentinien als Sehnsuchtsland, das Haus der Grossmutter als Lebensort, als Flugnest für verwaiste Kücken zu inszenieren, das gelingt ihr mit einer Leichtigkeit und Stimmigkeit, die verblüfft und gefangen nimmt. Dabei stimmt nicht nur alles an diesem Film, es geht weit darüber hinaus. Gerade weil Mumenthaler alles klein und verortet hält, bekommt das eine Grösse und Wucht, die packt.
Letztes Jahr war hier in Locarno Songs of Love and Hate von Katalin Gödrös zu sehen. Das war ein mutiger und intelligenter Film über die Unwägbarkeit der Pubertät, über eine junge Frau, die sich und ihrer Familie fremd wird und gleich eine ganze Reihe von Dramen verschuldet. Das hat nur bedingt funktioniert, unter anderem, weil die Dialoge manchmal kaum das Drehbuchpapier zu verlassen vermochten – der Film war am stärksten in den wortlosen Momenten. Milagros Mumenthaler bleibt viel näher bei ihren Figuren, verzichtet auf extreme Momente und Wendungen, und holt dabei aus ihren Schauspielerinnen eine natürliche Intensität heraus, die staunen lässt. Es gibt keinen falschen Ton in diesem Film, kein aufgesetztes Bild, keine an ein Grundgerüst geschraubten Szenen. In seiner Natürlichkeit ist das ein Film, der an den japanischen Meister Hirokazu Kore-Eda erinnert, vor allem an sein leises Kinderdrama Nobody Knows von 2004.
Wenn der diesjährige Wettbewerb von Locarno noch einen weiteren dermassen starken Film bringen kann, dann soll uns das freuen. Wenn nicht, dann steht der Goldene Leopard 2011 für mich bereits fest.
Diese Besprechung weckt Vorfreude – und rechtfertigt deinen Beruf!