Locarno 11: MANGROVE von Julie Gilbert und Frédéric Choffat

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Eine junge Französin kommt mit ihrem kleinen Sohn an einem Ort an der Pazifikküste an, der offensichtlich ihre Vergangenheit geprägt hat. Im Mangrovensumpf gräbt sie ein Messer aus, hin und wieder gibt es Flashbacks zu einer Liebesbeziehung mit einem einheimischen Mann. Geredet wird kaum, aber Hitze und fiebrige Nervosität sind spürbar.

Der dritte von der Schweiz koproduzierte Beitrag im Wettbewerb von Locarno ist auch der Schwächste. Er leidet am gleichen Syndrom wie etliche andere Filme im diesjährigen Angebot: Ein Stoff und eine Umsetzung, welche möglicherweise einen grandiosen Kurzfilm ergeben hätten, werden in die Länge eines Spielfilms gezogen, ohne den dafür nötigen grossen Atem zu haben.

Dass ein Film in Schwierigkeiten steckt, merke ich als Zuschauer immer dann, wenn ich zum Realitätshuber werde. Wenn ich mich über Details in der Inszenierung aufzuhalten beginne, weil die heraufbeschworene Stimmung nicht dicht genug ist, weil die Spannung nicht hält, weil den Bildern der Atem ausgeht. In Mangrove gibt es eine ganze Reihe solcher Momente, in denen ich mich ausgebremst fand. Wenn eine eben erst aus Frankreich eingereiste junge Frau mit ihrem kleinen Sohn mit dem Boot durch den Mangrovensumpf paddelt und plötzlich ein Alligator durchs Wasser gleitet, dann wird dieser von keinem Kind dieser Welt einfach ignoriert. Und wenn zwei Menschen mit einem kleinen Paddelboot irgendwo im Mangrovensumpf ankommen und aussteigen, lassen sie auf keinen Fall das Boot ungesichert im Wasser liegen, ohne es wenigstens halb auf festen Boden zu ziehen. Das sind die Momente, in denen man vor dem inneren Auge die Kamera-Crew sieht, und die Regie, welche die Schauspieler zwischen den Bäumen durch winkt.

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Dabei ist es eine durchaus dramatische Geschichte aus der Vergangenheit der Frau und ihres Sohnes, die hier aufgerollt wird. Und es gelingt Choffat und Gilbert auch, zumindest eine Ahnung dessen zu vermitteln, was ihnen vorgeschwebt haben muss: Ein Fiebertraum im Mangrovensumpf, eine unbewältigte Vergangenheit, die langsam in die Gegenwart hineinkocht, eine verzweifelte Suche nach Klärung und Friede. Aber Mangrove bleibt Exposition, der Film ist in seiner ganzen Länge von 70 Minuten nur der Anfang vom Ende.

Natürlich bleibt die These vom Kurzfilm meinerseits Behauptung. Ich denke, mit dem gleichen Material hätte sich ein extrem dichter, atmosphärisch starker zwanzigminütiger Kurzfilm schneiden lassen. Aber vielleicht hätte dem dann tatsächlich die Ruhe gefehlt, das Gefühl für vergehende und vergangene Zeit.

Wie bei etlichen Filmen im diesjährigen Wettbewerb von Locarno zeigt sich auch hier, dass ein Nachwuchswettbewerb (zugelassen sind Erst- bis Drittlingsfilme) auch so angeschaut werden sollte. Diese Filmemacher zeigen Talent und Potential, Können und Willen. Schwierig wird es allerdings, den gerechten Blick zu wahren, wenn daneben ein Erstling wie Milagros Mumenthalers Abrir puertas y ventanas keine spürbaren Schwächen aufweist, jeden Ton und jede Geste mit schlafwandlerischer Präzision setzt. Im Direktvergleich wirkt Mangrove wie der Entwurf für einen Film.

Frédéric Choffat, Julie Gilbert
Frédéric Choffat, Julie Gilbert

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