Zum Ende des Wettbewerbs eine Überraschung aus Japan. Katsuya Tomita, Jahrgang 1972, wollte eigentlich Musiker werden, und dazu zog er aus der Provinzstadt Kofu nach Tokyo. Und dort erwischte ihn der Filmkäfer. Fünf Jahre lang kämpfte er, um seinen Erstling Above the Cloud zu realisieren, den er 2003 herausbringen konnte. Etliche Preise und einen Film später kehrte er nach Kofu zurück und nahm Saudade in Angriff.
Das portugiesisch-brasilianische Wort für Weltschmerz als Titel für einen japanischen Film? Schon dies alleine lässt aufhorchen und hinblicken. Und es lohnt sich!
Im Zentrum des Films stehen einige Bauarbeiter in Kofu, zum Beispiel Takeru, der aus Tokyo gekommen ist und nun der Kopf der lokalen Rap-Combo ‚Army Village‘. Er kommt aus einer ursprünglich nicht schlecht situierten Familie, aber seine Eltern sind dem verbreiteten Geldspiel Pachinko verfallen und spielen sich um Kopf und Kragen.
Takeru findet sich gut zurecht mit seinen älteren Kollegen von der Baustelle, auch wenn er Mühe hat damit, wie sie ihren Lohn und ihre Nächte in der Gogo-Bar mit Thai-Mädchen vertrinken. Überhaupt findet er all die brasilianisch-japanischen Arbeiter und die Thais zunehmend unerträglich. Als dann auch noch seine Ex-Freundin aus Tokyo auftaucht und als Event-Promoterin eine Rap-Battle zwischen der brasilianisch-japanischen Gruppe ‚Small Park‘ und Takerus ‚Army Village organisiert, geraten Takerus Gefühle vollends aus dem Takt.
Saudade ist ein täuschend einfach aufgebauter, hochkomplexer Spielfilm, der aussieht wie ein Dokumentarfilm. In der Machart erinnert er an die Meisterstücke des Philipino Brillante Mendoza. Der Film folgt einer ganzen Reihe von Männern und Frauen durch ihren Alltag und ist dabei randvoll mit komischen, tragischen und aberwitzigen Momenten. Das sind 167 Minuten, die im Flug vergehen und die einem vor allem von Anfang an das Gefühl geben, mitten drin zu sein.
Regisseur Katsuyo Tomita ist Mitglied eines Kollektivs, Kuzoku-ku, einer Art Fimlemacherstamm, die es sich zum Ziel gesetzt haben, ihre unabhängig produzierten Filme auch alternativ zu vertreiben in Japan, also nicht über die traditionellen Verleiher.
Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn dieser Film nicht einen der Preise abbekäme, wahrscheinlich sogar den Goldenen Leoparden. Denn für Locarno stimmt hier alles. Es ist das Werk eines Nachwuchsfilmers, er ist innovativ auf jeder Ebene, er behandelt auf eindrücklich undogmatische Art das auf der ganzen Welt wachsende Problem der Xenophobie und er wirft sein Augenmerk nicht nur auf Japaner und Thailänder, sondern auch noch auf die unzähligen Japan-Brasilianer. Ein perfekter Kandidat nicht nur für die Hauptjury, sondern auch für etliche der Nebenjuries bis hiin zu jener der Kirchen.
Und verdient hätte Saudade jeden Preis, den er morgen verliehen bekäme.