Kein Mensch ist illegal?

Am 13. August kam es zum Schluss des Filmfestivals von Locarno zu einem zunächst fast unbemerkten Eklat. Paulo Branco, Produzent und Jurypräsident, liess sich an der Palmarès-Pressekonferenz über den von seiner Jury übergangenen, aber zum Beispiel von der oekumenischen Jury ausgezeichneten Dokumentarfilm Vol spécial von Fernand Mélgar aus. Er bezeichnete Mélgars Dokumentarfilm über ein Westschweizer Ausschaffungslager für abgewiesesene Asylbewerber als „faschistisch“, weil der Filmemacher Wert darauf legte, das Lagerpersonal nicht zu denunzieren. Im ideologisch fixierten Weltbild des Portugiesen Branco bedeutet eine neutrale filmische Haltung automatisch Kollaboration mit dem Feind (mehr dazu hier in der Zeit). Dabei signalisiert Mélgars Film, wie schon sein Vorgänger La forteresse, die Rückkehr des politischen Dokumentarfilms in der Schweiz. Dass Mélgar, selber Einwanderersohn, bei seinen Filmen auf Parolenausgabe verzichtet, hat nicht wenig zu ihrer Verbreitung und angeregten Diskussion beigetragen. Damit hat Melgar gleichzeitig den Boden bereitet für andere Dokumentarfilmer, auch für solche, die weiter gehen, wie zum Beispiel Simon Labhart und Tina Bopp. Deren Film Kein Mensch ist illegal dokumentiert die Situation der „sans papiers“ in der Schweiz, ausgehend von der Besetzung der kleinen Schanze in Bern im Juni 2010. Der Film lässt jene zu Wort kommen, welche juristisch gesehen gar nicht da sein dürften. Dass dabei viel Wut, Angst und Frustration spürbar wird, liegt in der Natur der Sache. Mit diesem Film wäre Paulo Branco wahrscheinlich zufrieden gewesen. Dokumentarfilm kann und muss beides: Dokumentieren und Stellung beziehen. Wo die Sympathien und die Betroffenheit von Labhart und Bopp zu finden sind, steht dabei ausser Frage, schliesslich ist schon der Titel des Films Kein Mensch ist illegal programmatisch – und das ist gut so. Dass wir in der Schweiz zur Zeit aber überhaupt wieder über politisch engagierte und relevante Filme diskutieren können, passt nicht allen in den politischen Kram. Und das wiederum ist, ganz neutral konstatiert, enorm entlarvend.

Kein Mensch ist illegal ist am nächsten Sonntag in Zürich zu sehen:

Sonntag, 4. September 2011, 11.30 Uhr
Kino Riffraff, Neugasse 57–63, 8005 Zürich
Basisbewegungen statt Parlamentarismus
Nur die direkte Aktion verändert was?!
Vorführung der Dokumentarfilme
Kein Mensch ist illegal &
Education is not for sale

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