Berlinale 2012: Wettbewerb II

Kacey Mottet Klein, Léa Seydoux in 'Sister' von Ursula Meier
Kacey Mottet Klein, Léa Seydoux in ‚Sister‘ von Ursula Meier

Einen thematischen roten Faden zu finden in dieser Ausgabe 2012 ist nicht möglich – noch viel heterogener als in anderen Jahren hat sich der Wettbewerb präsentiert. Vom Kostümschinken zum spanischen Horrorfilm, vom chinesischen Epos zum stillen deutschen Familiendrama, vom Zoo in Jakarta bis zu Klosterbergen in Griechenland – alles war drin und noch viel mehr.

L’enfant d’en haut / Sister
Auf L’enfant d’en haut von Ursula Meier, den Schweizer Beitrag, war ich natürlich sehr gespannt. Der Film heisst nun Sister, eigentlich passend zum ersten Film Meiers, Home. Es ist die Geschichte des zwölfjährigen Simon, der mit seiner unbestimmt älteren Schwester in einem Hochhaus im Wallis lebt. Die Schwester bekommt ihr Leben nicht auf die Reihe, also ist Simon zuständig. Er klaut im Skigebiet Ausrüstungen, die er verkauft, und Essen, das er mitbringt. Sister pendelt (oder gondelt) immer zwischen Oben, im schicken Skigebiet, und Unten, im trostlosen Industriegebiet, hin- und her. Aber auch oben ist man oft in Toiletten, hinter der Restaurantküche, unter der Gondelstation. An Orten also, die das Bild der schönen heilen Bergwelt brechen. Gebrochen sind auch schon diese jungen Existenzen, die des kleinen Diebs und seiner Schwester.

Sister ist ein kluger Film, auch ein bisschen merkwürdig – und was in Home noch hervorragend funktionierte, nämlich die Schaffung eines eigenen Universums, das funktioniert hier nicht mehr, und manchmal weiss man nicht so recht, ob das nun Parabel oder realistisches Sozialdrama sein soll. Trotzdem ist Sister (ganz ohne falschen Patriotismus) ganz sicher einer der interessanteren Beiträge im Wettbewerb gewesen.

Jayne Mansfield’s Car
Klug und wunderbar auch Billy Bob Thorntons Beitrag Jayne Mansfield’s Car: 1969 in den Südstaaten der USA angesiedelt. Jim Caldwell erfährt, dass seine Ex-Frau in England gestorben ist und der zweite Ehemann samt Familie die Tote zur Beerdigung zurückbringen möchte.

John Hurt und Robert Duvall in 'Jayne Mansfield's Car' von Billy Bob Thornton
John Hurt und Robert Duvall in ‚Jayne Mansfield’s Car‘ von Billy Bob Thornton

Caldwell hat drei Söhne und eine Tochter, der englische Mann Bedford einen Sohn und eine Tochter. Welten prallen aufeinander – aber nicht nur zwischen den Familien zweier Kontinente. Letztlich ist Jayne Mansfield’s Car ein Film über den Einfluss, den der Krieg (oder die verschiedenen Kriege) auf Menschen, auf familiäre Beziehungen und vor allem auf Vater-Sohn-Beziehungen hat. Und darüber, wie sich das von Generation zu Generation weiter zieht. Gute Schauspieler zeichnet aus, dass sie sich, obwohl schon fast stereotypisch besetzt, immer wieder neu erfinden. Robert Duvall in der Rolle von Jim Caldwell ist einfach umwerfend. Eigentlich ist Jayne Mansfield’s Car von Billy Bob Thornton mein ganz persönlicher Lieblingsfilm dieser Berlinale 2012 – er wird aber wohl ganz still vergessen gehen.

Barbara, Was bleibt, Gnade

Nina Hoss in 'Barbara' von Christian Petzold
Nina Hoss in ‚Barbara‘ von Christian Petzold

Einige weitere Beiträge seien hier nur kurz angesprochen: aus Deutschland waren neben Barbara von Christian Petzold noch zwei weitere Beiträge zu sehen: Was bleibt von Hans-Christian Schmid. Und leider bleibt von diesem allzu stillen Familiendrama mit Lars Eidinger und Corinna Harfouch nicht viel übrig. Auch Gnade von Matthias Glasner ist ein Familiendrama und spielt nördlich vom Polarkreis, wohin Niels (Jürgen Vogel) und Maria (Birgit Minichmayr) ausgewandert sind. Von diesem Film bleiben vor allem die unglaublich schönen Bilder hängen, die der Landschaft in der Finmark und den Nordlichtern zu verdanken sind.

Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel in 'Gnade' von Matthias Glasner
Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel in ‚Gnade‘ von Matthias Glasner

Aus Indonesien kommt von Edwin mit Postcards From The Zoo eine rührige und skurrile Liebesgeschichte aus dem Zoo von Jakarta – und aus China ein unglaublich grosses und melodramatisches Epos, das zum Ende der Kaiserzeit beginnt und 1938 endet: Bai Li Yuan (White Deer Plain) von Wang Quan’an, der in Berlin auch schon den Goldenen Bären gewonnen hat mit Tuya’s Marriage. Für diesen wird’s dieses Mal nicht reichen, aber trotzdem mag man die drei Stunden gerne absitzen.

'Bai lu yuan' (White Deer Plain) von Wang Quan'an
‚Bai lu yuan‘ (White Deer Plain) von Wang Quan’an

Gefühlte vier Stunden mindestens dauert der Zweieinhalbstünder En kongelig affaere (A Royal Affaire) aus Dänemark – ein unglaublich langfädiges Kostümdrama aus der Aufklärung von Mikolaj Arcel, das trotz Mads Mikkelsen nicht schneller vorbei geht.

Gyöngyi Lendvai in 'Csak a szél' (Just The Wind) von Bence Fliegauf
Gyöngyi Lendvai in ‚Csak a szél‘ (Just The Wind) von Bence Fliegauf

Zwei der spannendsten Filme liefen ganz am Ende des Wettbewerbs: Csak A Szél (Just The Wind) ist ein ungarischer Film von Bence Fliegauf. Er erzählt die ungeheuerliche Geschichte von ungarischen Morden an rumänischen Roma-Familien nach. Im Zentrum steht eine Familie, die in der ständigen Angst lebt, vielleicht die nächsten Opfer zu sein. Der Film folgt den Figuren, begleitet sie in ihrem schwierigen Alltag, bei der Arbeit, in der Schule, beim Herumspazieren – immer mit der Angst im Nacken. Ein bedrückendes Stück Kino, das durch seine grobkörnigen Handkamerabilder umso direkter und unmittelbarer wirkt. Dass es eine ungarische Filmcrew war, die ausgerechnet in einer Zeit, in der Ungarn ganz nach rechts aussen rutscht, diesen Film gedreht hat, macht ihn mindestens zum heissen Kandidaten für die Ökumenische Jury.

Rebelle
Ebenso bedrückend und ebenso eindrücklich war der letzte Beitrag im Wettbewerb: Rebelle von Kim Nguyen. Der Film erzählt die Geschichte eines 12jährigen Mädchens, das in einem Bürgerkrieg in Afrika von Rebellen verschleppt wird und als Kindersoldatin dienen muss. Der Film erzählt konsequent aus der Perspektive des Mädchens, das Grausames erlebt und Grausames ausführen muss. Der brutale Realismus ist immer wieder gebrochen durch Sequenzen, in denen das Mädchen Geister von Verstorbenen sieht – inszeniert ist das ganz einfach mit komplett weiss angemalten Menschen, aber die Wirkung ist umso intensiver. Geschickt umgeht der Film jede Falle, die dieses heikle Thema stellen kann, vermeidet Betroffenheitsdiskurs und Rührseligkeit, aber auch zu extremen Realismus, bei dem man irgendwann nicht mehr hinsehen mag. Ein heftiger, aber guter Abschluss für einen eher unspektakulären Wettbewerb 2012.

'Rebelle' von Kim Nguyen
‚Rebelle‘ von Kim Nguyen

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