Sven heisst nicht wirklich Sven. Und falls er tatsächlich Archäologie studiert hat, dann wohl nicht in Bamberg. Aber Sven ist pädophil, das weiss er seit seiner Pubertät. Und fast eben so lange ist ihm klar, dass es für seine Neigung keine Erfüllung geben darf. Während einem der vielen Interviews in Outing erklärt er sinngemäss, er habe ja noch Glück, er sei nicht nur pädosexuell, sondern auch schwul. Und da bestehe zumindest die Chance, dass er einmal jemanden finde, der im legalen Alter sei und ihm gewogen.
Nach all den dokumentarischen Spielfilmen und inszenierten Dokumentarfilmen, welche Österreich seit Seidl und Haneke auf die Welt los lässt, sind Outing und Stillleben von Sebastian Meise und Thomas Reider die konsequente und längst fällige Komplementierung. Ein Dokumentarfilm, der die Kernproblematik aufzeigt, und der ergänzende Spielfilm, der die aufgeworfenen Fragen durchspielt. Dabei ist der Dokumentarfilm Outing eigentlich das Nebenprodukt, entstanden aus den Recherchen für den Spielfilm heraus.
Drehbuchautor Thomas Reider wurde vom Berliner Charité-Projekt Kein Täter werden auf die Idee für den Spielfilm Stillleben gebracht. Es ist das weltweit erste Projekt, das sich der Täterprophylaxe für Pädophile angenommen hat, ein Therapieprogramm, dass den Männern (es gibt auch pädophile Frauen, die werden aber kaum wahrgenommen. Vielleicht auch darum, weil sie als Täterinnen kaum je in den Fokus geraten) die Möglichkeit geben will, sich ihrer Neigungen und der Gefahren bewusst zu werden und sich entsprechend zu verhalten.
Wie Sven im Dokumentarfilm Outing erklärt, ist es für therapiewillige Pädophile sehr schwer, überhaupt willige Psychiater oder Therapeuten zu finden. Das liegt daran, dass Pädophilie keine Krankheit ist, sondern eine „Störung“ und nicht therapierbar. Pädophile können genau so wenig „geheilt“ werden wie Homosexuelle. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, ihre Neigung zu unterdrücken, eben nicht zu Tätern zu werden, sich keine Übergriffe auf Kinder zuschulden lassen zu kommen.
Der radikalste Schritt ist dabei die chirurgische Kastration. Ein älterer Pädophiler, der sich dazu entschlossen hat, erzählt Sven im Film davon. Er erklärt aber eindringlich, man könne den Schritt niemandem anraten. Neigungen und Sehnsüchte blieben bestehen, nur der Trieb sei wenigstens weg.
Outing ist ein mutiger Dokumentarfilm, nicht zuletzt, weil er sich auf den Mut und die Risikobereitschaft des extrem auskunftswilligen Sven einlässt. Der junge Mann sei fast schon kindlich in seiner Offenheit, erklärten die Autoren gestern nach der zweiten Vorführung in Graz, und laut einer psychiatrischen Diagnose zwanghaft aufrichtig. Darin ortet der einzige Psychiater, der überhaupt bereit war, im Film aufzutreten (im Gespräch mit Sven) aber auch ein Risiko: Mit dem Entschluss, sich über den Film zu outen, gewinne Sven ja keine grundsätzliche Zuneigung. Und zu Täter würden Menschen am Rande des sozialen Spektrums in der Regel dann, wenn sie nichts mehr zu verlieren hätten.
Wie alle relevanten Dokumentarfilme wirft Outing für jede Frage, die er beantwortet, eine ganze Reihe von neuen auf. Einige betreffen uns ganz grundsätzlich, etwa unsere Haltung gegenüber potentiellen Tätern: Wieviel Freiheit gestehen wir den Gedanken tatsächlich zu? Und wie verändert das wissen um eine Neigung unser Verhältnis zu einem Menschen? Diesen Fragen geht der wirklich grossartige Spielfilm Stillleben nach.
Und einige der Fragen betreffen das Handwerk des Dokumentarischen an und für sich (auch diese Autoreflexion ist ein unverzichtbarer Bestandteil jedes relevanten Dokumentarfilms): Wie viel Verantwortung lädt sich ein Filmemacher auf, gegenüber seinen Protagonisten, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit? Soll ein Dokumentarfilm Teil einer Therapie sein, auch wenn sie allenfalls kontraproduktiv sein könnte? Was passiert, wenn ein Sensationsmedium den wahren Sven aufspürt und zu einem Teil einer Hetzkampagne macht? Beispiele dafür gibt es genug, man denke nur an die britischen Diskussionen um die Publikation von Sexualstraftäter-Registern.
Eine verblüffende aber einleuchtende Analogie machte übrigens gestern im Kino nach der Vorstellung Regisseur Meise. Ein Mensch im Rollstuhl müsse sich ja auch mit einer Lebenssituation arrangieren, in der nicht (mehr) alles möglich ist. Somit sollte auch ein Pädophiler damit leben können, dass er der Erfüllung seiner Neigung nicht nachleben kann und darf. Und schon sind wir wieder gefordert, denn wie lässt sich das in Einklang bringen mit Slogans wie „Wir lassen uns nicht behindern“, mit denen die Integration körperlich und geistig Behinderter in die Gesellschaft propagiert wird? Sind wir bereit dazu?