Cannes 12: PARADIES LIEBE von Ulrich Seidl

Paradies Margarethe Tiesel

Paradies ist eine gewachsene und mittlwerweile wohl auch fertig geschnittene Trilogie des Österreichers Ulrich Seidl. Ursprünglich war offenbar ein einziger Film mit drei Strängen geplant, jetzt ist der erste als eigenständiger und echter Seidl in Cannes uraufgeführt worden.

Paradies: Liebe erzählt von der fünfzigjährigen Teresa aus Österreich, die sich mit ihrer besten Freundin einen Sexurlaub in Kenia gönnt. Die „Sugar Mamas“ aus Deutschland und Österreich sind für die kenianischen Beach Boys Lebensunterhalt und Arbeitsgebiet zugleich. Und Seidl steigt auch mit seinem gewohnt gnadenlosen Blick in den Film ein. Ganz kurz werden die Lebensumstände der ledigen Mutter in Österreich geschildert, ihre übergewichtige Tochter (die im zweiten Teil der Trilogie wohl im Zentrum stehen wird) und eine Verwandte, die während des Urlaubs auf Tochter und Katze aufpassen soll.

Dann folgt schon die Ankunft in Kenia, wie auch der Bustransfer und der Empfang im Resort – alles eben so satirisch überzeichnet wie wahrscheinlich wirklichkeitsgetreu wiedergegeben. Das ist ja das Höllische bei Seidl, dass auch seine gemachten Bilder immer direkt aus der Wirklichkeit stammen.

Paradies

Es dauert volle fünfundvierzig Minuten, bis aus der sexhungrigen, unsicheren, unattraktiven Teresa plötzlich ein Mensch wird. Zunächst wirkt die von der überaus mutigen Margarethe Tiesel perfekt verkörperte Frau wie ein weiteres jener österreichischen Mittelstandsmonster, die aussehen wie von Haderer gemalt und reden wie von Gerhard Polt vertextet. Aber nach fünfundvierzieg Minuten und einigen ernüchternden Erfahrungen mit den emsigen Fliessbandgigolos liegen die vier Frauen wieder an der Sonne und Teresa erklärt, sie würde sich wünschen, einer würde ihr mal richtig in die Augen schauen. Auf die Seele sozusagen. Da blitzt ganz kurz die ganze Traurigkeit und Verzweiflung der Frauen auf – bloss um bald darauf wieder einer gierigen Kolonialattitüde Platz zu machen.

Der Film spielt das ganze Elend durch, in echten Seidl-Kadrierungen, symmetrisch angeordneten Bildern, mit aufgestellten und durchorganisierten Statistentableaus von grotesker Schönheit. In den Details und vor allem den intimen Szenen geht der Film über jede Komfortgrenze hinaus und stellt alle und alles bloss, nackt, und traurig, und hängend, und verzweifelt.

Und doch ist Seidl älter geworden und milder. Noch immer zwingt uns sein Blick zu gnadenlosem Degout. Zugleich aber mag er nicht nur seine Hauptfigur, er gesteht auch den meisten anderen ihre Menschlichkeit zu. Und das macht den Film seltsamerweise zum Spielfilm, nicht etwa die Inszenierung der absolut realistischen Wirklichkeit.

Paradies Liebe

Paradies: Liebe ist nicht nur ein echter Seidl, es ist auch das Gegenstück zu Whore’s Glory seines Landsmannes Michael Glawogger. Glawoggers Film ist ein Dokumentarfilm über Prostitution, der manchmal die Perspektive dreht, vor allem dort, wo er seinen Protagonistinnen dabei zusieht, wie sie versuchen, eine Art Selbstbestimmtheit zu behaupten. Das Verrückte an Seidls Paradies: Liebe ist nun allerdings, dass der Film deutlich macht, dass sich nicht nur die Beach Boys prostituieren, sondern auch die Sugar Mamas. Wohl gibt es eine Sequenz, in de rdie vier Frauen im Hotelzimmer einen jungen Stripper erniedrigen und zum Spielzeug machen. Aber der männliche Trick, die pekuniäre Gewaltausübung zu einem absoluten Machtgefüge zu stilisieren, den haben die Frauen zumindest in dem Film nicht drauf. Jeder Versuch zur Fremdausbeutung fällt auch auf sie selber zurück. Denn das, was sie suchen ist, im Gegensatz zum männlichen, mehr oder weniger sublimierten Machttrieb, eben nicht die simple Machtausübung, sondern die hochkomplexe Variante davon, das begehrt werden.

Ulrich Seidl
Ulrich Seidl

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