Cannes 12: REALITY von Matteo Garrone

Reality 2

Mit den ersten Einstellungen übertrifft sich der Cannes-Jury-Preis-Gewinner von 2009 zunähst einmal selber. Die Luftaufnahme einer goldenen Märchenkutsche, welche durch aktuelle italienische Strassen in ein superkitschiges Hochzeitsresort fährt, kickt den Titel Reality gleich mal eine Bewusstseinsstufe höher. Dann folgt die grosse italienische Familienhochzeit, mit Einstellungen, Gesichtern und Figuren, die an Fellini erinnern.

Und dann der irre Kontrast zu den zerbröckelnden, in Wohnungen umgeschuhschachtelten Palazzi in Neapel, in denen die Protagonisten und ihre Nachbarn hausen, mitten drin der Fischhändler Luciano. Weil am Fest der letztjährige Gewinner der TV-Show Big Brother einen grossen Auftritt hatte (serienmässig, die Hochzeiten werden in dem Resort am Fliessband und parallel abgewickelt), drängt Lucianos Tochter den Papa dazu, sich bei der Casting Show im lokalen Einkaufszentrum zu bewerben. Schliesslich ist der Papa die Stimmungskanone der Familie.

Reality 3

Tatsächlich wird Luciano zum Hauptcasting nach Rom eingeladen, und da fährt der Film noch einmal zu Hochform auf: Das Big Brother Haus und die Casting Studios befinden sich in Cinecittá. Und Garrone kann es sich nicht verkneifen, mit der Kamera zuerst ein wenig zu lang auf dem Schriftzug am Eingang zu den legendären Studios zu bleiben – und dann die Druckluftgehaltene Big Brother Zeltblase vor der grossen Krone im Rasen, dem letzten Fellini-Kulissen-Überbleibsel zu zeigen. O tempora o mores. Aber das wars dann auch schon.

Reality 1

Es folgt eine Reihe von Szenen, in denen Luciano auf den Anruf aus Rom wartet, und immer überzeugter ist davon, dass ihm überall Agenten des TV auflauern, um ihn im Alltag auf seine Showtauglichkeit zu prüfen. Luciano lebt Big Brother, ohne tatsächlich für die Show aufgeboten zu sein. Hübscher Einfall, satiretauglich. Und da müsste der Film dann enden. Tut er aber nicht. Garrone hämmert immer weiter Luciano verschenkt hab und Gut in seinem Wahn, stürzt die Familie in die Verzweiflung, verkauft seinen Fischladen und wartet auf die Einladung.

Die Zeichnung der armen, aber solidarischen Quartiergemeinschaft und der Familien-Clans in Neapel ist schön. Auch die Überlebenstricks der Menschen, ihre kleinen krummen Geschäfte und der Kontrast zur skrupellos irrealen Fernsehwelt funktioniert, manchmal wirkt die Inszenierung dokumentarisch, der Film bietet immer was fürs Auge. Aber nach der Halbzeit ist der Groschen gefallen, das Prinzip erklärt, und der Rest wirkt wie drei Strophen zu viel.

Reality Matteo Garrone beim Balldreh
Matteo Garrone dreht die wirklich schne Ballszene

Dazu passt auch der Schluss, der sich um jede Auflösung drückt und stattdessen zum ältesten Ende aller Irrenhausfilme greift. Es mag ja sein, dass der Film recht akkurat den Zustand von Italien schildert. Aber es hat auch einen Grund, dass das Big Brother Format keine Wellen mehr wirft, kaum mehr wirklich wahrgenommen wird. Es ist längst in der Realität verankert. Und damit bringt der Film keine echte Erkenntnis. Das Einfordern der „fifteen minutes of fame“ ist ein satirischer Gemeinplatz geworden, die trügerische Hoffnung der Menschen so institutionalisiert wie das Schweizer Zahlenlotto.

Reality Matteo Garrone beim Regendreh
Matteo Garrone dreht im Regen

Kommentar verfassen