Cannes 12: VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU von Alain Resnais

Ensemble

Neunzig Jahre alt ist der Mann. Und wirft einen Film auf die Leinwand, der von Schalk und Ernsthaftigkeit nur so sprüht. Vous n’avez encore rien vue, das sind drei parallele Inszenierungen von Jean Anouihls ‚Eurydice‘ in einem simplen, aber raffinierten Setting.

Resnais liebt die Bühneninszenierung auch in seinen Filmen. In diesen steigt er mit einer ironischen Vorwegnahme der vielen Mehrfachszenen ein, die dann folgen werden. Jeder einzelne der Schauspieler und Schauspielerinnen des Films bekommt einen Anruf vom Butler des Theaterregisseurs Antoine d’Anthac (Denis Podalydes). Der Freund sei tot, und seine letzte Bitte sei es gewesen, dass die alten Freunde sein Anwesen in einem kleinen Bergort aufsuchen.

Sabine Azéma Pierre Arditi 2
Sabine Azéma, Pierre Arditi

So führt der Film seine Stars ein, indem sie alle den gleichen Anruf beantworten: Mathieu Amalric, Pierre Arditi, Sabine Azéma, Jean-Noël Brouté, Anne Consigny, Anny Duperey, Hippolyte Girardot, Gérard Lartigau, Michel Piccoli, Lambert Wilson und etliche mehr, darunter den Veteranen Michel Robin, den wir Schweizer als Knecht ‚Pipes‘ in den unvergesslichen Les petites fugues von Yves Yersin in Erinnerung haben.

Sabine Azéma Pierre Arditi Alain Resnais
Sabine Azéma, Pierre Arditi, Alain Resnais

Die Rahmenhandlung greift auf den alten Bühnenkniff zurück, den man aus Agatha Christies Romanen kennt, aber auch aus Filmen wie Peter’s Friends: Einer bittet den Freundeskreis zu Besuch und die Vergangenheit beginnt zu leben in der geselligen Runde. Hier ist es die gemeinsame Theatervergangenheit mit dem Regisseur. Alle Geladenen haben in einer seiner Inszenierungen von Anouihls ‚Eurydice‘ mitgespielt. Als Überraschung begrüsst der Verstorbene seine alten Freunde von einer Leinwand herab und bittet sie, einer gefilmten neuen Inszenierung des Stücks beizuwohnen. Kaum beginnt der Film, fallen die Schauspielerinnen und Schauspieler im Saal in die alten Rollen zurück, erinnern sich an den Text, deklamieren, spielen, lachen. Bald klingt jeder Satz dreimal durch den Raum.

Lambert Wilson Anne Consigny
Lambert Wilson und Anne Consigny

Das birgt die Gefahr der Eintönigkeit, aber so weit lässt es Resnais nie kommen. Einerseits hat er die moderne Inszenierung, den Film im Film von Denis Podalydes machen lassen, dem Schauspieler der Comédie Française, der auch den Antoine d’Anthac gibt. Andererseits hat er mit dem erlesenen Ensemble seinen kalkulierten Schabernack getrieben. Der Eurydice, welche seine tatsächliche Lebensgefährtin Sabine Azéma wie immer mit komödiantischem Flair und leichter Hysterie spielt, hat er den soliden und ruhigen Pierre Arditi als Orpheus gegenübergestellt. Und der engelhaften Eurydice von Anne Consigny den fast schon hölzern wirkenden Lambert Wilson. Allein diese Kontraste bringen eine enorme theatralische Spannung. Dazu kommen Bühnen und Filmtricks wie Split-Screen, Kulissentricks und etliches mehr.

Sabine Azéma, Pierre Arditi
Sabine Azéma, Pierre Arditi

Ein bisschen auf der Strecke bleibt dabei das Stück von Anouihl selber. Manche würden vielleicht sagen: Verdienterweise. Was Resnais aus den Parallelinszenierungen herausdestilliert, ist jedenfalls so poetisch wie witzig und keineswegs ohne Substanz. Es ist schön, wenn man einem Film und einer Inszenierung das Handwerk ansieht. Und es macht Freude, den bekannten französischen Altstars dabei zuzusehen, wie sie voller Vergnügen bei er Sache sind. Bis hin zu Michel Piccoli, der mit diebischem Vergnügen Orpheus‘ idiotischen Vater spielt, der sich ausschliesslich für günstige Menus interessiert.

Das Versprechen des Titels jedenfalls löst Resnais spielend ein: Wir haben noch gar nichts gesehen. Wartet bloss darauf, was ich mache, wenn ich in zehn Jahren Hundert werde… Chapeau, Monsieur!

Alain Resnais (90)
Alain Resnais (90)

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