Cannes 12: THE ANGELS‘ SHARE von Ken Loach

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Die Zusammenarbeit von Ken Loach mit Drehbuchautor Paul Laverty ist ziemlich eingespielt – fast ein bisschen zu sehr, könnte man nach diesem Film sagen. The Angels‘ Share ist ein Hybrid aus den ernsthaften Sozialdramen, für die das Duo bekannt ist, und den komödienhaften Ausflügen, mit denen es überrascht hat, etwa Looking for Eric, mit dem sie 2009 hier im Programm waren.

Der neue Film beginnt mit einer grossartigen Solonummer einer der Figuren an einem Bahnsteig und der Stimme Gottes über Lautsprecher. Danach ist allerdings erst mal Schluss mit lustig; wir lernen das harte Leben von Robbie und seinen Freunden kennen. Arbeitslosigkeit, Gewalt, Gerichtsverfahren – und Strafarbeit im Dienste der Gemeinde.
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Cannes 12: KILLING THEM SOFTLY von Andrew Dominik

Brad Pitt
Brad Pitt als Auftragskiller

Andrew Dominik hats mit den amerikanischen Mythen. Und mit Brad Pitt. Der war schon in The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford von 2007 Geschmackssache. Diesmal bezieht sich der Titel (auch) auf seine Figur. Der Film spielt in der Zeit des Wahlkampfes, Bush und Obama sind abwechselnd auf allen Bildschirmen zu sehen und zu hören. Aber im Vordergrund kämpfen ein paar Loser ums Überleben, überfallen ein illegales Spielcasino und ziehen damit den Zorn eines nicht näher definierten Syndikates auf sich.

Brad Pitt spielt den Killer, der schliesslich für die Aufräumarbeiten herbeigezogen wird. Er seinerseits zieht aus New York den nicht mehr ganz taufrischen Micky (James Gandolfini) bei, der sich aber als völlig abgehalftert erweist. „Cannes 12: KILLING THEM SOFTLY von Andrew Dominik“ weiterlesen

Cannes 12: VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU von Alain Resnais

Ensemble

Neunzig Jahre alt ist der Mann. Und wirft einen Film auf die Leinwand, der von Schalk und Ernsthaftigkeit nur so sprüht. Vous n’avez encore rien vue, das sind drei parallele Inszenierungen von Jean Anouihls ‚Eurydice‘ in einem simplen, aber raffinierten Setting.

Resnais liebt die Bühneninszenierung auch in seinen Filmen. In diesen steigt er mit einer ironischen Vorwegnahme der vielen Mehrfachszenen ein, die dann folgen werden. Jeder einzelne der Schauspieler und Schauspielerinnen des Films bekommt einen Anruf vom Butler des Theaterregisseurs Antoine d’Anthac (Denis Podalydes). Der Freund sei tot, und seine letzte Bitte sei es gewesen, dass die alten Freunde sein Anwesen in einem kleinen Bergort aufsuchen. „Cannes 12: VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU von Alain Resnais“ weiterlesen

Cannes 12: LIKE SOMEONE IN LOVE von Abbas Kiarostami

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Nicht nur bei Haneke steht die Liebe dieses Jahr im Zentrum, auch Abbas Kiarostami führt sie im Titel. Und die eine seiner drei Hauptfiguren ist ein 80jähriger Professor. Der bestellt sich eine zwanzigjährige Callgirl-Studentin in die Wohnung – wie es aussieht vor allem um für jemanden kochen zu können. Der Film beginnt verwirrend in einem Lokal, in dem verschiedene Männer und Frauen miteinander reden. Auch Akiko ist da, sie bekommt einen Anruf, offenbar von ihrem Freund, der wissen will wo sie sei, und redet sich heraus.

Die erste und grösste Stärke dieses Films besteht darin, das wir uns dauernd fragen, wer diese Leute sind, was sie tun, und wie sie zueinander stehen. Denn da ist nichts völlig fixiert, wie sich herausstellt. Akiko ist liebenswürdig und plaudert mit dem alten Mann, will dann aber schnell ins Bett, weil sie müde ist und am nächsten Tag Prüfungen hat. Er lässt sie schlafen und fährt sie am Morgen zur Uni. Bloss um dort auf den eifersüchtigen Freund zu stossen, der ihn allerdings für Akikos Grossvater hält. Und Takashi spielt mit, ohne zu lügen, mit der Raffinesse und Abgeklärtheit seines Alters. „Cannes 12: LIKE SOMEONE IN LOVE von Abbas Kiarostami“ weiterlesen

Cannes 12: AMOUR von Michael Haneke

Jean-Louis Trintignant
Jean-Louis Trintignant

Michael Haneke schaut nicht weg. Und sein Publikum darf das auch nicht. Aber mit Amour bewegt sich Haneke weg von der Unerbittlichkeit der Menschheit zur Unerbittlichkeit des Schicksals. Man könnte auch sagen: Er weint zum ersten Mal auch für sich selber.

Der 81jährige Jean-Louis Trintignant und die 85jährige Emmanuelle Riva sind Georges und Anne, ein altes, komfortabel eingerichtetes Ehe- und Liebespaar in einem schönen alten Pariser Apartement. Anne war Klavierlehrerin, zu Beginn des Films besuchen die beiden ein Konzert eines ehemaligen Schülers. Dass Isabelle Huppert, die bei Haneke schon La pianiste war, diesmal die Tochter spielt, wirkt zwar einen Moment lang wie ein privates Augenzwinkern, verschwindet aber fast sofort hinter der gewohnten Souveränität der Schauspielerin. „Cannes 12: AMOUR von Michael Haneke“ weiterlesen

Cannes 12: JAGTEN von Thomas Vinterberg

Mads Mikkelsen
Mads Mikkelsen

Jagten ist in einem gewissen Sinne die Rückseite von Vinterbergs 1998er Dogma-Erfolg Festen. Ging es damals darum, im Rahmen eines grossen Familienfestes den lange zurückliegenden Kindsmissbrauch des Patriarchen ans Licht zu zerren, dreht sich Jagten um das schiere Gegenteil. Es ist die Geschichte einer Hexenjagd auf Pädophilieverdacht.

Mads Mikkelsen spielt Lucas, einen arbeitslosen Primarlehrer, der als Kindergärtner eine neue Stelle gefunden hat am Ort, an dem er aufgwachsen ist. Er ist mitten in der Scheidung und im Sorgerechtsstreit mit seiner Ex-Frau um den Sohn. Und da macht die fünjährige Klara, die Tochter seines besten Freundes, gegenüber der Kindergartenleiterin eine eifersüchtige Bemerkung über Lucas, den sie heiss liebt, der aber einen Kuss auf den Mund von ihr zurückgewiesen hat, „weil das nur für Mama oder Papa“ sei. „Cannes 12: JAGTEN von Thomas Vinterberg“ weiterlesen

Cannes 12: ANTIVIRAL von Brandon Cronenberg

Caleb Landry Jones
Caleb Landry Jones in 'Antiviral' von Brandon Cronenberg

Es braucht ein gesundes Selbstbewusstsein, um so nahtlos beim Frühwerk des eigenen Vaters anzuschliessen, wie das Brandon Cronenberg, der Sohn von David, mit Antiviral tut. Der Plot, das Drehbuch, die Inszenierung: Das alles könnte vom Vater sein. Allerdings ist das Thema absolut gegenwärtig und damit mindestens so faszinierend wie David Cronenbergs Filme wie Rabid oder Shivers im Vor-Aids-Zeitalter.

Antiviral spielt in einer nur ganz leicht in die Zukunft verschobenen Gegenwart, in der die Celebrity-Kultur so weit gediehen ist, dass sich die Fans bei einer Firma wie der Lucas-Clinic die Viren der Stars spritzen lassen, um deren Krankheiten spazieren zu tragen (nähme mich wunder, was die ähnlich klingende Basler Klinik davon hält). Und in spezialisierten Geschäften wird geklontes Muskelfleisch von den gleichen Stars verkauft, damit sich die Menschen ihre Idole regelrecht einverleiben können. Klassisch Cronenbergscher Body-Horror eben. „Cannes 12: ANTIVIRAL von Brandon Cronenberg“ weiterlesen

Cannes 12: LAWLESS von John Hillcoat

Lawless

Der Australier Hillcoat ist fasziniert vom amerikanischen Genrekino. In seiner Studienzeit in Kanada habe er sich unzählige Siebzigerjahrfilme aus den USA angesehen. Und nun hat er, ähnlich wie einst Sergio Leone, das Stilgefühl, das ihm das Spiel mit den Genrekonventionen erlaubt. Mit der Cormac McCarthy-Verfilmung The Road hat er den Endzeitfilm neu definiert (und, wenn man an Millers Mad Max zurückdenkt, für ewige Zeiten in die Hand der Australier gegeben).

Lawless nun kombiniert die urbanen Prohibitionszeit-Gangsterfilme mit den ruralen Depressions-Kisten wie etwa Paper Moon, hängt sich dabei aber direkt ans knallharte 70er-Jahr-Kino der unzähligen Bonnie and Clyde-Nachfolger an. „Cannes 12: LAWLESS von John Hillcoat“ weiterlesen

Cannes 12: DUPÃ DEALURI – Beyond the Hills von Cristian Mungiu

DUPÃ DEALURI 2

Cristian Mungiu hat mit seinem Palmengewinn für 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage 2007 das rumänische Filmwunder in die Welt gebracht. Seither hat sich das neue rumänische Kino in viele Richtungen entwickelt, und Mungius jüngster Palmenanwärter fügt noch eine dazu. Beyond the Hills ist in der Gegenwart angesiedelt. Aber die kleine klosterähnliche Anlage, welche ein erst rund dreissigjähriger orthodoxer Priester, von den Novizinnen ‚Papa‘ genannt, mit einer Priorin, Mama genannt, auf einem Hügel aufgebaut hat, ohne Strom und fliessend Wasser, fällt irgendwie aus der Zeit.

Vordergründig folgt der Film realen Ereignissen, bei denen ein hilfloser Versuch eines Exorzismus zum Tod einer jungen Frau geführt hatten. Die Journalistin Tatiana Niculescu Bran hat einen ’non-fiction-Roman‘ über die tatsächlichen Begebenheiten geschrieben, der schliesslich aber bloss die Ausgangslage für den Film bildete. Mungiu hat die Ereignisse zugleich entdramatisiert und überhöht. Der tatsächliche Fall war zwar tragisch, aber für sich genommen bedeutungslos, sagt Mungiu. Da seien Inkompetenz, schlechtes Timing und Verantwortungslosigkeit zusammen gekommen. „Cannes 12: DUPÃ DEALURI – Beyond the Hills von Cristian Mungiu“ weiterlesen

Cannes 12: REALITY von Matteo Garrone

Reality 2

Mit den ersten Einstellungen übertrifft sich der Cannes-Jury-Preis-Gewinner von 2009 zunähst einmal selber. Die Luftaufnahme einer goldenen Märchenkutsche, welche durch aktuelle italienische Strassen in ein superkitschiges Hochzeitsresort fährt, kickt den Titel Reality gleich mal eine Bewusstseinsstufe höher. Dann folgt die grosse italienische Familienhochzeit, mit Einstellungen, Gesichtern und Figuren, die an Fellini erinnern.

Und dann der irre Kontrast zu den zerbröckelnden, in Wohnungen umgeschuhschachtelten Palazzi in Neapel, in denen die Protagonisten und ihre Nachbarn hausen, mitten drin der Fischhändler Luciano. Weil am Fest der letztjährige Gewinner der TV-Show Big Brother einen grossen Auftritt hatte (serienmässig, die Hochzeiten werden in dem Resort am Fliessband und parallel abgewickelt), drängt Lucianos Tochter den Papa dazu, sich bei der Casting Show im lokalen Einkaufszentrum zu bewerben. Schliesslich ist der Papa die Stimmungskanone der Familie. „Cannes 12: REALITY von Matteo Garrone“ weiterlesen