Locarno 12: LORE von Kate Shortland

Sakia Rosendahl in 'Lore' ©look now
Sakia Rosendahl in ‚Lore‘ ©look now

Lore ist eingängig, plakativ, überzeugend und direkt. Es ist die Geschichte eines Kindes, das nicht nur schlagartig erwachsen werden muss, sondern gleichzeitig das Glaubenssystem verliert, das seine Welt zusammengehalten hat. Lore ist die älteste Tochter einer Nazi-Familie. Bei Kriegsende werden die Eltern verhaftet und Lore muss versuchen, sich mit ihren vier jüngeren Geschwistern, eines davon noch ein Baby, quer durch das sektorisierte und in Auflösung begriffene Deutschland nach Husum durchzuschlagen, zur Grossmutter. Und auf dem Weg wird ausgerechnet ein jüdischer Junge zum Begleiter und Beschützer der Kinder. Ein Untermensch, ein Feind, ein Unberührbarer – der auf Lore aber zunehmend faszinierend und anziehend wirkt

Das Entnazifizierungsstück gehört seit ein paar Jahren fix zu Locarno. 2009 war es Unter Bauern, letztes Jahr Achim von Börries‘ Vier Tage im Mai. Aber die deutschen Bemühungen bleiben weit abgeschlagen zurück hinter dem, was die Australierin Cate Shortland dieses Jahr auf Deutsch und mit deutschen Schauspielerinnen zeigt. Lore ist ein Drama, das radikal die Seite wechselt. Es zeigt nicht das Leiden der Juden, es sucht nicht die guten Deutschen. Lore zeigt, was es heissen kann, wenn ein Glaubenssystem zerfällt, was es heisst, den Herrenrassenanspruch aufgeben zu müssen und zu erkennen, woran man selber Schuld trägt.

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Dass die Australierin Cate Shortland diesen Film auf Deutsch und in Deutschland gedreht hat, bedeutet wohl auch den Eintritt in eine neue Phase der filmischen Aufarbeitung. Spielbergs Schindler’s List war der Durchbruch, der von aussen kam, dann folgten die kleineren und grösseren deutschen Filme bis hin zum Untergang. Aber den inneren, persönichen Kampf, die Auto-Entnazifizierung, das wurde im Publikumskino noch kaum je so direkt in Angriff genommen. Das macht den Film im übrigen zu einem überaus aktuellen Drama, schliesslich sind fast alle von uns Teil eines Systems, das unmenschliche Züge zumindest mitbedingt. Keiner von uns kann sicher sein, dass sein Wertesystem nicht auch dem eigenen Schutz zu dienen hat. Und wenn man Lores Dilemma mit den schmerzvollen Ausstieg aus einer Sekte vergleicht, kommt einem der Film gerade noch einmal einen Schritt näher.

Kai Malina ist Thomas in 'Lore' ©look now
Kai Malina ist Thomas in ‚Lore‘ ©look now

Übrigens ist auch Thomas klugerweise als zwiespältige Figur angelegt. Einerseits ist er als Jude mit Ausweis im befreiten Deutschland beweglicher, zumindest lassen ihn die aliierten Soldaten bei Kontrollen in Rihe. Andereseits profitiert er auch von der Kindergruppe und insbesondere vom Baby, welches das Essen erbetteln bei anderen Flüchtlingen einfacher macht. Und er spielt, vielleicht unbewusst, mit Lores Verwirrung angesichts ihrer zwiespältigen Gefühlslage zwischen erotischer Anziehung, Schutzbedürfnis und nicht mehr haltbarer Herrenmenschenhaltung.

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Als Film schreckt Lore nicht vor plakativen, sehr eingängigen Momenten zurück, und das ist eine seiner Stärken. Denn auch die feinen Töne sind vorhanden, eben so wie spekulative, Vermutungen, Ahnungen.

Lore wird in der Schweiz voraussichtlich im Dezember ins Kino kommen. In unserer heutigen live-Sendung aus Locarno hatten wir Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl zu Besuch, sowie die Schweizerin Ursina Lardi, welche die Mutter spielt. Und Brigitte Häring hat mit Regisseurin Shortland gesprochen.

Wer Lust hat, kann die Sendung hier nachhören:

oder saugen: Locarno live, Tag 2 (Rechtsklick für Download, 11.9 MB)

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