Locarno 12: LEVIATHAN von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor

Leviathan 1

Leviathan ist ungeheuer. Was für ein Hammer, dieser Dokumentarfilm! Als Hardcore-Fisch-Holocaust könnte man ihn bezeichnen, aber damit käme man unter Umständen in des Teufels Küche (wo sich der Film irgendwie schon befindet). Und wenn ich von dokumentarischem Splatter-Kino rede, dann denkt die Leserin womöglich an Snuff-Filme.

Nichts wäre falscher, denn der Unterhaltung dient dieser Film zu allerletzt. Lassen wir für einmal den Katalog zu Wort kommen:

Exakt in jenen Gewässern, in denen Melvilles Schiff Pequod nach Moby Dick jagte, hält Leviathan die Gemeinschaft und das Aufeinandertreffen von Mensch, Natur und Maschine fest. Mit rund einem Dutzend Kameras – die geworfen, angebunden und zwischen Fischer und Filmemacher übergereicht werden –, entstand so ein kosmisches Porträt über eine der ältesten Herausforderungen der Menschheit.

Leviathan 3

Die ersten fünfzehn Minuten lässt einen das fast abstrakte Bild- und Tonchaos auf der Leinwand einigermassen im Dunkeln, ganz wörtlich. Wir sind unter Wasser, über Wasser, an der Winde für irgendetwas Nasses, Tropfendes, das sich mit der Zeit als Einholmaschine für das riesige Fischnetz eines mittelgrossen Fischerbootes entpuppt.

Leviathan 2

Die Kamera bleibt stets viel zu dicht auf allem drauf, die Hilflosigkeit der gefangenen Fische überträgt sich sehr schnell auf mich im Kinosaal: Ich kann mich nicht bewegen, meinen Blick nicht schweifen lassen, ich habe keine Ahnung, was ich da sehe und vor allem: infernalisch höre. Und es geht weiter so.

Irgendwann liege ich zwischen hunderten von toten und halbtoten Fischleibern, werde auf Deck hin- und hergespült und fühle eine leichte Übelkeit aufsteigen.

Das hat damit zu tun, dass wir Filmbilder nicht zum Nennwert nehmen können. Nicht, wenn sie so daherkommen. Ein Haufen glitschiger, toter Fischleiber, Köpfe, offene Mäuler, glasige Augen: Kein Mensch entgeht der sofortigen Allegorisierung des Bildes. Die Aufladung im Kopf erfolgt fast wie beim Haare bürsten, induktiv, unvermeidbar. Wir liegen in nassen Leichenbergen.

Dabei hat der Film keineswegs den Anspruch, uns die industrielle Fischverwertung oder die moderne Berufsfischerei zu vermiesen. Anders als viele Dokumentarfilme der letzten Jahre befindet sich dieser nicht auf einem Anklagefeldzug gegen die industrialisierte Perversion der Menschheit gegenüber der Natur. Das macht er vor Beginn mit einem Bibelzitat zum mythischen Meeresungeheuer Leviathan klar.

Ist Leviathan traditionell eine Gefahr für Menschen und Schiffe, kommt es hier zu einer Umkehrung, das Fischerboot selber wird zum Meeresungeheuer. Damit stehen aber die Geschehnisse der rund 36 Stunden auf See über jeder moralisch-ethischen Beurteilung. Selbst beinahe unerträgliche Bilder, wie die einer verletzten Möve, die nicht mehr hoch kommt und sich schliesslich ins Meer stürzt, wirken wie der Ausdruck eines unerbittlichen Schicksals, das nichts mit den Menschen zu tun hat, welche an Bord ihrer Arbeit nachgehen.

Leviathan 4

Das ist ein Film, den man sich antun muss. Es gibt dafür keine moralische Verpflichtung und auch keinen vernünftigen Grund, jenseits der schieren Neugier auf das, was mit Bildern beschworen werden kann, mit Bildern, die einzig durch ihren Standpunkt und ihren eigenwilligen Duktus einen winzigen Teil unserer Welt mit uns selber und unseren Ur-Ängsten aufladen. Der Film dürfte bei seiner Vorführung etliche Zuschauerinnen und Zuschauer verlieren. Aber um einen Preis dafür kommen die diversen Festivaljuries nicht herum.

Leviathan ist ungeheuer.

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