Frankreichs Wunderkind François Ozon kommt in die Jahre. Fleissig wie Woody Allen produziert er jährlich einen Film, und jedes mal lässt er eine Familie anders taumeln. Nun ist es vielleicht ein wenig paradox, ausgerechnet Ozon Altmännerphantasien zu unterstellen – aber sein neuer Film lebt zu guten Teilen davon. Im Zentrum steht die etwas scheue, aber experimentierfreudige siebzehnjährige Isabelle, die sich nach ihrer Entjungferung durch einen jungen Deutschen in der Sommerfrische rasch zu einem heimlichen Callgirl mausert, mit eigenem Webauftritt. Sie studiert an der Sorbonne und besucht am Nachmittag Hotelzimmer.
Die erste Einstellung des Films ist der Blick eines Voyeurs durch einen Feldstecher auf Isabelle am Strand. Wie sich herausstellt, steht hinter dem Binokular Isabelles jüngerer Bruder Victor, von François Ozon als eine Art Selbstporträt des Künstlers als Knabe angelegt. Das ist alles mindestens so hübsch inszeniert wie das Gesicht und der Körper der schönen Marine Vacth, mit demonstrativem Gespür für die Sehnsüchte und Nöte einer erwachenden Frau … oder dem, was ich als Mann da allenfalls vermute.
Wenn Isabelle beim ersten Sex am nächtlichen Strand sich selber beobachtet, als eine Art Astraldoppelgängerin, dann funktioniert das ganz gut. Auch das leise Trauma der Enttäuschung über dieses erste Mal ist nachvollziehbar. Aber gleichzeitig hängt da immer eine leichte Schwülstigkeit im Blick, nicht gerade Bilitis, aber doch ein wenig Eric Rohmer und ein wenig dieser Blick von früher.
Nun ist Ozon einerseits schwul und andererseits ein bekennender Nostalgiker, insofern darf man hinter all dem inszenatorischen Kalkül durchaus eine gewisse Ironie (und eine persönliche Sehnsucht) vermuten. Zudem gesteht er Isabelle konsequent eine Selbständigkeit und Adaptionsfähigkeit zu, die dem Film eine interessante Note verleiht.
Aber über eine lange Strecke hinweg spielt er eben doch bloss mit dem Klischee der Studentin, die sich heimlich prostituiert, nicht aus Not, sondern aus Freude am Kick, an der eigenen Wirkung.
Interessanter wird es eigentlich erst, als die Polizei die Mutter informiert und sowohl die Familie wie auch Isabelle damit umgehen müssen, was das alles passiert ist.
Hier allerdings verliert der Film an Glaubwürdigkeit, vielleicht gerade darum, weil er nicht mehr auf Klischees zurückgreifen kann (sieht man einmal von den langen Duschen des Mädchens ab). Was sich zwischen Isabelle und ihrer Mutter, aber auch dem Stiefvater und dem Therapeuten entwickelt, wirkt eher wie ein Planspiel der Möglichkeiten.
Im Raum steht die bürgerliche Vorstellung von der Schändlichkeit und Schädlichkeit der Prostitution, konterkariert von befreienden Reflexen, Ideen zur Selbstbestimmtheit, Machtinstinkt und Experimentierfreude. Ozon lässt das alles aufeinander prallen, seine Sympathie bleibt aber bei Isabelle und ihrer Freiheit, zu tun und zu lassen was sie will und daran zu wachsen.
So gesehen ist Jeune & jolie eine nüchterne filmische Utopie, untermalt von vier sentimentalen Liebeschansons aus der Perspektive einer Frau und einem Rimbaud-Gedicht. Geglieder ist das in vier nach den Jahrezeiten benannte Kapitel und filmisch ist das alles impécable, sauberes Handwerk auf höchstem Niveau. Aber der Film bleibt ein Essay, von durchdachter Konsequenz ist er weit entfernt.
Nachtrag vom 10. Oktober 2013:
Betrachtet man Jeune et jolie allerdings als Essay zu Voyeurismus und Perspektive, dann bekommt der Film ein überraschendes zweites Eigenleben. Ozon fächert eine Reihe von Aussenperspektiven auf Isabelle auf, angefangen beim Fernglas-Blick des jüngeren Bruders auf die Schwester am Strand, über ihre Autoperspektive als externalisierte Doppelgängerin auf sich selber beim Aufgeben ihrer Unschuld, bis schliesslich zum sehnsüchtig eifersüchtigen Blick, den Charlotte Rampling als Witwe des herzinfarktverstorbenen Isabelle-Kunden auf die junge Frau sucht. Und wir als Zuschauer im Kinosaal gesellen uns ebenfalls zu diesem Reigen der Blicke, irritiert, gekitzelt, gereizt und durchaus auch verunsichert.