TANGO LIBRE von Frédéric Fonteyne

2 TangoLibre

Alice hat einen jungen Sohn, und einen Liebhaber im Gefängnis. Der Vater des Sohns ist des Liebhabers bester Freund und ebenfalls im Gefängnis. In der gleichen Zelle. Und das ganze verquere Dreieck sehen wir durch die Augen des Gefängniswärters Jean-Christophe (François Damiens), der Alice im Tango-Kurs kennengelernt hat.

Viel künstlicher könnte eine Drehbuchkonstruktion gar nicht ausfallen, oder? Aber sicher: Denn Fernand (Sergi López) und Dominic (Jan Hammenecker) im Gefängnis kriegen Wind vom Tangokurs und von den Avancen, den ihr Wächter ihrer Frau macht. Und das können sie nicht auf sich sitzen lassen.

Der Wärter wird erst mal behandelt. Und dann organisiert man sich die Argentinier im Gefängnis – für einen gründlichen Tango-Kurs.

Anne Paulicevich und Sergi López ©agora
Anne Paulicevich und Sergi López ©agora

Nein, Tango libre ist keine Komödie. Auch kein Tanzfilm. Tango libre ist ein kleines kollaboratives Filmwunder von Frédéric Fonteyne und seiner Frau Anne Paulicevich. Sie hat nicht nur das Drehbuch geschrieben (zusammen mit Philippe Blasband), sie spielt auch die Alice. Sie ist Schauspielerin, geschulte Tänzerin, hat bei Jacques Doillon eine Serviererin gespielt und bei Jean-Claude van Damme in JCVD in einem Tickethäuschen – und ist gleich nach den Dreharbeiten zu Tango libre Mutter geworden.
Das Paar Pauliceveich-Fonteyne hat es geschafft, die jeweils eigenen Obsessionen perfekt zu einem wirklich starken Film zu fusionieren.

Fonteyne ist ein Cineast der Blicke. Seine Filme bestehen aus Perspektiven; sie werden aus den verschiedenen Blickwinkeln verschiedener Figuren erzählt. Das war besonders deutlich in Une liaison pornographique von 1999, in dem Nathalie Baye und Sergi López einen Mann und eine Frau spielten, welche ihre ungebundene Langzeit-Hotel-Affäre rekapitulierten.

Sergi López und Nathalie Baye in 'Une liaison pornographique' von 1999
Sergi López und Nathalie Baye in ‚Une liaison pornographique‘ von 1999

Tango libre spielt nun ebenfalls mit den Blickwechseln, fast unmerklich choreographiert. Das beginnt schon beim Filmanfang, bei dem ein Überfall auf einer Strasse schief läuft und wir als Zuschauer bereits anfangen, unsere Blicke irgendwo anzuhängen, um Orientierung zu finden.

Und dann folgen all diese Szenen, welche für sich genommen jeweils perfekte Binnen-Inszenierungen darstellen. Ob wir Jean-Christophe beim schüchternen Tanzen mit Alice sehen, oder Alice mit ihrem Sohn, oder die Männer im Gefängnis: Das alles ist mit Präzision und Ernsthaftigkeit gespielt und inszeniert.

Anne Paulicevich und François Damiens
Anne Paulicevich und François Damiens ©agora

Fonteyne hat einen Blick für realistische Situationen und er dreht mit dokumentarischer Präzision.
Er hat bei den Vorbereitungen für den Film akribisch recherchiert, mit Langzeitgefangenen gesprochen, Gefängnisse besucht. Und so entstand dieser Film mit seiner irrwitzigen Mischung aus Verrücktheit und Realismus, Komik und Ernsthaftigkeit.

Sergi López und Jan Hammenecker ©agora
Sergi López und Jan Hammenecker ©agora

Was so ausgesprochen spielerisch scheint, ist perfekt durchkonstruiert bis in die Details. So bilden die Aussenwelt und die Gefängniswelt zunächst klar voneinander isolierte filmische Räume, verbunden einzig durch den Wärter Jean-Christophe, der sich zwischen den beiden bewegen kann – und der Liebe zwischen Alice und den Männern und ihrem Sohn.

Zacharie Chasseriaud und Anne Paulicevich ©agora
Zacharie Chasseriaud und Anne Paulicevich ©agora

Die trifft dann allerdings ebenfalls auf einen konkreten filmischen Raum, die Besucherhalle im Gefängnis, wo sich Alice mit dem einen Mann trifft, während der andere ein paar Tische weiter mit dem Sohn spricht – und dann die Konstellation wechselt. Hier ist wiederum der junge Wärter ausgeschlossener Beobachter, während ich als Zuschauer überall dabei sein kann.

Diese Intimität macht mich zum Komplizen aller, auch dort, wo sich ihre Interessen nicht zur Deckung bringen lassen. Und damit bekommt der Film eine emotionale Spannung, die ihresgleichen sucht.

Frédéric Fonteyne und Anne Paulicevich ©fiff
Frédéric Fonteyne und Anne Paulicevich ©fiff Belgien

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