Locarno 13: TABLEAU NOIR von Yves Yersin

Von Yves Yersin stammte einer der ersten Dokumentarfilme, die mich in meiner Schulzeit wirklich packten: Die letzten Heimposamenter über die Schweizer Seidenbandweber, 1974. Und einer der schönsten und erfolgreichsten Schweizer Spielfilme der Siebzigerjahre: Les petites fugues (1979) mit Michel Robin als Bauernknecht Pipe, der auf seine alten Tage beginnt, die Welt zu erforschen – mit dem Mofa. Und danach kam nichts mehr von Yersin. Er unterrichtete, statt selber weiter zu filmen.

Darum ist das Sujet von Tableau noir, seinem neuen Dokumentarfilm im Wettbewerb von Locarno, auch so passend: Es geht um einen Lehrer, der an einer winzigen Gesamtschule in den Bergen des Jura die Kinder der Weiler unterrichtet – seit vierzig Jahren, bereits die dritte Generation. Das heisst, die Eltern seiner Schüler waren auch schon seine Schüler. Gilbert Hirschi ist das Herz und der Kopf der kleinen interkommunalen Schule. Und nun soll sie geschlossen werden.

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Yersin nimmt das zum Anlass, die Arbeit des Lehrers mit den Kindern ein Jahr lang zu beobachten. Das heisst, er ist vom ersten Schultag der Neueintretenden mit der Kamera dabei. Wir lernen Hirschi kennen und zunächst sechs der neuen Kinder und einen guten Teil der älteren. Und weil die Dreharbeiten offenbar bald zum Schulalltag gehören, scheinen alle Beteiligten die Kamera sehr schnell zu vergessen.

Die Direktheit und Intimität, welche Yersin erreicht, sucht ihresgleichen. Kinder zu beobachten, braucht mehr als nur Diskretion. Das geht nicht ohne ein grosses Herz und grosse Neugierde. Denn neben all den urkomischen und rührenden Momenten gibt es auch jene, welche jeden Dokumentarfilmer zum Zittern bringen können. Momente des Streites, eine Prügelei zwischen zwei Mädchen, Augenblicke, in denen der Erwachsene eigentlich eingreifen müsste – es sei denn, er vertraue den Kindern und der Situation an der Schule.

Und genau dies ist es, was diesen Film über vergleichbare hinaushebt: Hirschi ist ein aussergewöhnlicher Lehrer und die kleine Schule ist keine Erziehungsanstalt, sondern ein Ort, an dem die Kinder lernen und wachsen, ohne Zwang und Druck. So wird die Prügelei der beiden Mädchen sehr schnell durch ein paar besonnene Sätze eines älteren Schülers beendet, die Gruppe bleibt intakt und die beiden haben jede Möglichkeit, ihr Gesicht zu wahren und mit sich selber klar zu kommen.

Das ist nur ein Beispiel unter ganz vielen. Der Film sprudelt von Momenten, in denen man mit den Kindern staunt, und über ihre enorme Selbständigkeit und vor allem ihre Solidarität und ihr Gespür für die anderen. Dass die jüngeren sich die älteren als Vorbilder nehmen können, ohne von diesen in eine Hierarchie gedrückt zu werden, scheint das Resultat jahrzehntelanger Aufbauarbeit zu sein. und wenn man Hirschi beim Unterrichten zuschaut, manchmal ganz dicht auf einem Kindergesicht bleibt, dann wieder von weitem die Übersicht gewinnt… dann wünscht man sich unwillkürlich, man hätte da zur Schule gehen dürfen.

Aufnahmetechnisch ist der Film ebenfalls beeindruckend. Die Kinder sind oft einzeln mit kleinen Funkmikrofonen verkabelt, die Kamera ist immer wieder so dicht an ihnen dran oder auf ihren Aufgaben drauf, dass es fast unmöglich scheint, sie nicht als Protagonist dabei zu haben. Und doch hat man nach den ersten scheuen Blicken Richtung Kamera vom ersten Tag an nie mehr das Gefühl, die Kinder fühlten sich beobachtet.

Der Film ist in Kapitel unterteilt, die mit Kreide an eine Tafel geschrieben werden – aber animiert, nicht real. Und die Titel bezeichnen Farben oder Zustände, erschliessen sich also allenfalls in einer Interpretation. So wird das Dokumentarische subtil unterlaufen und es entsteht eine Art wortlose Kommentarebene.

Die entlädt sich dann am Schluss des Films, der emotional kaum stärker sein könnte – und dann noch einmal mit einem Trick des Filmemachers aufgefangen wird. Tableau noir ist Dokumentarkino in Perfektion.

Yves Yersin
Yves Yersin © filmcoopi

Eine Antwort auf „Locarno 13: TABLEAU NOIR von Yves Yersin“

  1. Vielen Dank für diesen tollen Beitrag, ich habe gerade Karten für eine Filmvorführung mit anschließender Diskussion mit Herrn Hirschi gewonnen (am 8.3. im Filmcasino in Wien) und freue mich nach dieser Beschreibung noch viel mehr auf den Film!
    LG Elke Falk

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