Locarno 13: SHU JIA ZUO JE von Tso-chi Chang

Es ist verblüffend, wie sich dieser Film aus Taiwan und Yves Yersins Schweizer Wettbewerbsbeitrag Tableau noir ergänzen. Zwei Filme über Kinder, Schüler, Schulen mit reduzierter Strenge. Aber der Film aus Taiwan ist ein Spielfilm, Yersins Tableau noir ein Dokumentarfilm. Und doch besteht eine Verwandtschaft: Beide Filme haben einen klaren Blick auf Kinder.

Weil seine Eltern keine Zeit haben und ohnehin die Scheidung erwägen, und weil sein Grossvater nach dem Tod seiner Frau im Dorf Gesellschaft brauchen kann, wird Bao für den Sommer aufs Land geschickt. Da sitzt er dann, mit seinem Ipad, seinem ferngesteuerten Helikopter und seiner Ratlosigkeit. Der Grossvater ist sehr direkt und setzt durch, was er für richtig hält, etwa, das Lichterlöschen und Fernseher Ausschalten lange vor Mitternacht.

Bao muss in die Sommerschule, eine kleine Gesamtschule mit fröhlichen Kindern verschiedenen Alters und eben so fröhlichen Lehrern. Da stellt sich nicht nur heraus, dass er den gleichen Spitznamen trägt wie ein hübsches Mädchen, nämlich „Bär“, sondern auch, dass die lokalen Schüler viel aufgeschlossener und freundlicher sind, als er es erwartet hat – und erwidern kann.

Es dauert eine ganze Weile, bis Bao sich mit zwei anderen anfreundet, und auch danach scheint er stets ein wenig distanziert. Shu jia zuo ye ist ein Sommerfilm mit einfacher Ausgangslage, im Prinzip das Sommerlager mit dem Aussenseiter. Aber zugleich wird das zu einer Jugendgeschichte mit einem Tom-Sawyer-Einschlag, und, mehr noch als das, zu einer beeindruckenden Alltagsschilderung.

Bei Filmen mit Kindern stellen sich beim Spiel- wie beim Dokumentarfilm die gleichen Probleme. Es ist sehr schwer, Kinder natürlich zu zeigen, weil sie auf alles reagieren. Und es ist noch schwerer, Kinder natürlich zu inszenieren, weil den meisten von uns Kinder eher fremd sind. Wer eigene hat, kennt zwar diese, zudem waren wir alle auch mal Kind – aber die Erinnerung daran ist anders als die Realität heute.

So beeindruckt Shu jia zuo ye denn auch in erster Linie mit Menschen, welche überraschend bleiben. Vom Grossvater über Bao selbst bis zu seiner frechen kleinen Schwester Seegras führt der Film keine Klischeefiguren, keine interagierenden Minimaleinheiten vor, sondern Menschen mit ausgeprägten Persönlichkeiten und überraschenden Impulsen.

Der Vergleich mit Tom Sawyer hinkt genau so, wie der mit Pippi Langstrumpf, oder der roten Zora, dem kleinen Lord… oder all den anderen bekannten Kinderfiguren. Denn abgesehen davon, dass die meisten Protagonisten des Films tatsächlich Kinder sind, ist das so realistisch und ernsthaft inszeniert wie eine Milieustudie mit Erwachsenen. Das können nicht viele Regisseure so eindrücklich und charmant zugleich. Einer, an den ich mich immer wieder erinnert fühlte, ist der Japaner Kore-eda Hirokazu, insbesondere sein Kinderdrama Dare mo shiranai (Nobody knows) von 2004 und sein jüngster Film aus diesem Jahr, Shoshite chichi ni naru (Like Father like Son).

Tso-chi Chang
Tso-chi Chang

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