Duisburg 13: ASSESSMENT von Mischa Hedinger

Assessment sRGB

Herr Strässle wird ausfällig, zumindest für Schweizer Verhältnisse. Mit seinem Ausbruch erschreckt er die anderen Sitzungsteilnehmer. „Ich chumme grad widdr obenaabe“ schiebt er nach, aber die Verstörung bleibt hängen im Raum.

Herr Strässle war Typograph, aber die werden schon lange nicht mehr gebraucht. Er hat darum auch den Beruf gewechselt. Das ging ein paar Jahre gut, bis er mit dem Motorrad in eine Wand gefahren ist. Herr Strässle ist einer von den fünf Menschen, die in Mischa Hedingers Dokumentarfilm einem inter-institutionellen Assessment unterzogen werden: Vertreter der Invalidenversicherung, des regionalen Arbeitsvermittlungszentrums und des Sozialdienstes tauschen sich unter geschulter Führung zunächst unter sich und dann gemeinsam mit dem Klienten aus.

Für seinen ersten langen Film hat sich der in Luzern und an der Lausanner ECAL ausgebildete Mischa Hedinger in eine längst noch nicht ausgelotete dokumentarische Nische gewagt. Sitzungsfilme sind eben so rar wie auf den ersten Blick abschreckend. Im modernen Arbeitsalltag ist die Sitzung das zugleich alltäglichste wie auch das abgenutzteste Ritual überhaupt. Dass aber gerade der Ritualcharakter dieser eigentlich auf Effizienz ausgerichteten Institution nicht nur dramatisches, sondern auch analytisches Potential hat, demonstrieren Filmemacher wie Harun Farocki hier in Duisburg immer wieder. Am konsequentesten bisher wohl Stefan Landorf mit Besprechung (2009), er löste den Originalton vom Bild und isolierte die Inhalte bis zur Entlarvung ihrer Leere.

Mischa Hedinger kommt ohne sekundäre Dramaturgie zu einem vergleichbaren Ergebnis. Er filmt mit zwei fix installierten Kameras im Sitzungszimmer, so dass kleine Schwenks und Zoom zwar möglich sind, aber die Bewegung im Raum ansonsten ausgeschlossen. Er habe das Einverständnis der beteiligten Behörden bekommen, erklärte Hedinger gestern in Duisburg – vielleicht auch darum, weil vermutet wurde, dass die „Klienten“ es ihrerseits verweigern würden. Aber eigentlich ist es nicht wirklich erstaunlich, dass Hedinger drehen durfte: In diesem Setting sind alle von der Rechtschaffenheit ihrer Position überzeugt.

„Schaffe“ steht in den meisten Schweizer Dialekten für „arbeiten“. Entsprechend ist klar, dass bei uns niemand als „rechtschaffen“ gelten kann, der nicht arbeitet. Dass dieser Definition etwas Absurdes anhaftet in einer Welt, in der (bezahlte) Arbeit nur noch Privilegierten zukommt, versteht man nach den 49 Minuten von Mischa Hedingers Film deutlich besser.

Die professionelle Betroffenheit der Behördenvertreter trifft auf die pure Verzweiflung ihrer Kundschaft. Und diese Verzweiflung reicht von totaler Unterwerfung und vorauseilendem Gehorsam beim einen, über die leise, hoffnungslose Depression des anderen, und die agressive Opposition von Herrn Strässle bis zu den Tränen der Gehörlosen, der die Welt ausserhalb ihres Elternhauses nur noch Bedrohung zu sein scheint.

Das Perfide am Setup ist der Umstand, dass tatsächlich alle nur das Beste wollen. Wenn sich drei Sozialdienste zu koordinieren versuchen, ist das aus Sicht des Systems ganz klar eine Optimierungsstrategie. Und für die Klienten rein theoretisch eine Verfahrensvereinfachung. Andererseits ändert sich für fast niemanden etwas, denn das Grundproblem liegt ja in den gesellschaftlichen Normvorgaben – und die werden nun einmal überall sonst, aber garantiert nicht in diesem Kreis verhandelt.

Teaser ‚Assessment‘ von Mischa Hedinger auf Vimeo.

Hedingers Film wird getragen von Spannung und Verzweiflung und dazu gehören natürlich auch all jene Betroffenheitselemente, die das viel gescholtene Reality-TV industriell verwertet. Man könnte sagen, diese schlichten und wirkungsvollen 49 Minuten führen das Format zurück auf seine dokumentarische Essenz und sich damit zufrieden geben: Es funktioniert.

Aber tatsächlich ist die Verwandtschaft noch viel entfernter, denn das Setting des Assessments ist real, inszeniert wird vom Autor einzig über Auswahl und Perspektive, und die Reaktion des Publikums ist alles andere als vorhersehbar. Dies hat die gestrige Diskussion in Duisburg unter Beweis gestellt, bei der Sympathien und Empörung zumindest an der Oberfläche veranstaltungsspezifisch klar verteilt waren. Es sind andere Sichtungssituationen denkbar, bei denen die Reaktionen völlig umgekehrt ausfallen könnten. Und gerade dies macht natürlich die Qualität des Films aus.

Assessment von Mischa Hedinger ist in Koproduktion mit SRF entstanden und so wird der Film wohl auch irgendwann zur Austrahlung kommen – spät nachts, aber immerhin.

Nachtrag vom 10. November 2013: ‚Carte Blanche‘ – Nachwuchspreis des Landes NRW an der 37. Duisburger FIlmwoche, dotiert mit € 5.000

Mischa Hedinger
Mischa Hedinger

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