Ist er das, der Goldene Bär? Wenn dieser via Applausometer in den Pressevorführungen verliehen würde, dann auf jeden Fall. Der amerikanische Regisseur hat schon bei der (vorläufigen?) Trilogie Before Sunrise (1995), Before Sunset (2004) und Before Midnight (2013) bewiesen, dass er eine langen Atem hat und über Jahre hinweg Spannung aufrecht halten kann. Dreimal kam vor der Kamera das gleiche Paar (Julie Delpy und Ethan Hawke) zusammen, in bestimmten Stadien einer Beziehung.
Jetzt hat er seiner Fähigkeit, eine Geschichte über Jahre hinweg zu erzählen, noch die Krone aufgesetzt. Boyhood heisst der Film (auf deutsch nicht übersetzbar, es bezeichnet die Kindheit eines Jungen). Das ist ein Spielfilm, der über 12 Jahre hinweg das Aufwachsen eines Jungen verfolgt, von der Einschulung an bis zum Eintritt ins College. Er schlägt sich mit seiner älteren Schwester herum, muss sich allerlei Ermahnungen und Erziehungsreden vom Vater, von diversen Stiefvätern, von der Mutter und von Lehrern anhören, wächst dabei vom Jungen zu Teenie zum jungen Mann heran.
Das besondere an dem Film ist, dass Linklater ihn tatsächlich mit den gleichen Schauspielern über zwölf Jahre hinweg gedreht hat. 2002 hat er Ellar Coltrane für die Rolle des Mason als 6jährigen gecastet, für die etwas ältere Schwester Samantha hat er seine eigene Tochter Lorelei Linklater genommen, die geschiedenen Eltern spielen Patricia Arquette und Ethan Hawke. Jedes Jahr hat er etwa zwei Wochen lang gefilmt, das ungefähre Drehbuch stand schon zu Beginn, und auch die Schlusseinstellung habe er schon zu Beginn im Kopf gehabt, sagte Linklater auf der Pressekonferenz.
Als Dokumentarfilm gab es in der Schweiz eine ähnlich angelegte Geschichte. Béatrice Bakhti hat für die Langzeit-Fernsehdok Romans d’ados einige Kinder über Jahre hinweg immer wieder gefilmt. Aber in einem einzigen, komplett fiktiven Film zu sehen, wie die Figuren altern, ohne Schminke und Maske, sondern eben so wie die Schauspieler dahinter, das ist faszinierend.
Das allein ist zwar schon ein beeindruckendes Unternehmen (für das es unheimlich schwierig war, Geld zu finden), macht aber den Film noch nicht. Der muss auch gut geschrieben, erzählt und gespielt sein. Und das ist er. Das Grossartige daran ist, dass Linklater auf die grossen Dramen verzichtet und sogar die kleinen Dramen ausserhalb der erzählten Szenen stattfinden lässt.
Was wir schliesslich sehen, ist eine sehr normale, amerikanische Kindheit, die in ihren Problemen, Freuden und Leiden universell ist. Linklater hat dabei darauf verzichtet, einfach alle „ersten Male“ zu zeigen; weder „erster Kuss“, noch „erster Sex“ sind zu sehen. Davon gebe es in anderen Kinofilmen mehr als genug, sagte Linklater bei der Pressekonferenz. Stattdessen hat er genau hingeschaut, hat viele Momente eingefangen, die ungleich unspektakulärer sind, und dennoch ungeheuer wichtig in der Persönlichkeitsentwicklung.
Wenn etwa die neunjährige Schwester den sechs Jahre jüngeren Bruder mit Sing- und Tanzeinlagen von Britney Spears bis zum Schreianfall ärgert. Wenn er sich – vom autoritären Siefvater verordnet – mit etwa Zwölf die Haare ganz kurz schneidern muss (ein Drama, dass sich für ihn schlagartig wendet, als die Mädchen in der Klasse ihn plötzlich ganz hübsch finden).
Grosse Dramatik braucht dieser Film gar nicht – er zeigt in knappen drei Stunden (die wahnsinnig schnell vorbei gehen), wie dramatisch eine normale Kindheit sowieso ist. Irgendwann während der Jahre habe sie ihren Vater gebeten, ihre Figur doch bitte sterben zu lassen, erzählte Lorelei Linklater auf der Pressekonferenz. Das aber wäre ihm viel zu viel künstliche Dramatik gewesen, sagte Linklater dazu. Und so sind während zwölf Jahren alle dabei geblieben. Der Film ist ein Meisterwerk: Konsequenter kann eine „coming of age“ Geschichte nicht erzählt werden.