Cannes 14: MR. TURNER von Mike Leigh

Timothy Spall als J.M.W. Turner
Timothy Spall als J.M.W. Turner

Timothy Spall als William Turner ist ein monstre sacré bei Mike Leigh. Ein grosser, schwerer Mann, dessen Seele auf seinen Leinwänden explodiert, aber ansonsten gefangen ist in einem Körper, den er selber als Zumutung begreift.

Das tragende Prinzip von Mike Leighs Film über den grossen Spätromantiker und bahnbrechenden Proto-Impressionisten Turner ist genau diese Diskrepanz zwischen der lichtdurchfluteten schwebenden Leichtigkeit seines Spätwerks und der massigen Schwere seiner physischen Existenz.

Man könnte behaupten, der Film orientiere sich an Turners berühmtestem Bild, jenem einstigen stolzen Flaggschiff aus der Schlacht um Trafalgar, welche nun von einem kleinen Dampfer zur Verschrottung abgeschleppt wird:

Die 'Fighting Téméraire' wird zur Verschrottung geschleppt (William Turner, 1838)
Die ‚Fighting Téméraire‘ wird zur Verschrottung geschleppt (William Turner, 1838)

Mike Leigh inszeniert denn auch mit grosser Sorgfalt eine Vergnügungsbootsfahrt Turners mit zwei Malerfreunden, bei der sie genau diese Szene beobachten und Turner auffordern, doch daraus ein Bild zu machen. Und wärend die Freunde vor allem den Niedergang des einst grossen Seglers beklagen, betont Turner die fauchende Kraft der Zukunft in Form des Dampfschleppers.

Wie bei den meisten Szenen in diesem Film erschliesst sich die dramaturgische Absicht in einer tableau-artigen Aufstellung der Elemente. Manchmal stellen Leigh und sein Kameramann Dick Pope zusammen mit Production Designerin Suzie Davies ganze Szenen so zusammen, dass sie auf der Grandlage eines Turner-Bildes gewachsen scheinen.

Das führt allerdings auch bei vielen Szenen dazu, dass sie zu theatralischen Akten werden, zumal die Schauspieler in british acting schwelgen, sich on scene zu übertrumpfen suchen, und überhaupt das ganze Unternehmen mehr an Mike Leighs Topsy Turvy von 1999 erinnert, denn an seine zeitgenössischen Dramen.

Leigh selber zieht den Vergleich, wenn er erklärt, mit Topsy Turvy habe er zu zeigen versucht, wie viel harte Arbeit dahinter stecke, das Publikum zu unterhalten. Und nun habe er wieder die Kamera umgedreht und auf sich und seinesgleichen gerichtet: Die Künstler und die Spannung und den Kontrast zwischen ihrer zeitlosen Arbeit und ihrer sterblichen Existenz.

Mr. Turner on the road
Mr. Turner on the road

Wenn Timothy Spall gegen Ende des Films immer häufiger nur noch grunzt und schnauft und röchelt, dann kommt gerade diese Fragilität des Künstlerlebens auf ganz besonders perfide Weise zum Tragen. Das sterbende Rhinozeros, das wir da vor uns haben, erregt Mitleid und Bewunderung zugleich.

J.M.W. Turner: Mountain Screne with Castle (Martigny? Tate Gallery
J.M.W. Turner: Mountain Scene with Castle (Martigny?) Tate Gallery

Und zur Tragik des überaus erfolgreichen Künstlers, der zu den Stars seiner Zeit gehörte und dessen geniales Spätwerk doch von den meisten verkannt und verspottet wurde, gesellt sich die Tragödie des Mannes, der früh seine Mutter ans Irrenhaus verlor und sich fortan vor allem den Frauen gegenüber misstrauisch und unverbindlich benahm. Bis ihm im fortgeschrittenen Alter doch noch ein heimliches eheähnliches Leben mit der Witwe Booth gelang.

Auch hier inszeniert Mike Leigh von Anfang an sehr plakativ. Er zeigt, wie sehr sich die Haushälterin von Turner Vater und Sohn um die beiden kümmert, wie sie William auch hin und wieder für sexuelle Übergriffe zur Verfügung steht, aber von diesem im Übrigen wie ein Möbelstück behandelt wird.

Mit 150 dicht bepackten Minuten ist der Film selber ein Monster, und ein sehr gut ausgestattetes dazu. Die Rekonstruktion von Ortschaften, Marktszenen, Landschaften, Seaside-Szenerie und reichlich bevölkerten Stadtszenen ist atemberaubend gut gelungen. Nie wirkt die Szenerie gestellt oder gebastelt – allerdings verstärkt dann wiederum gerade dieser Realismus der Ausstattung den gelgentlichen Eindruck theatralischer Dialoge.

Turner: Der Brand des Parlamentsgebäudes
Turner: Der Brand des Parlamentsgebäudes in London

Und es gibt Szenen von absoluter Grossartigkeit, allen voran der varnishing day vor einer der grossen jährlichen Akademie-Ausstellungen. Turner spaziert von Bild zu Bild, von Kollege zu Kollege, und hat überall etwas konstruktives oder Witziges zu ihren Werken zu sagen. Ausser beim distinguierten Kollegen John Constable, dessen mit vielen roten Elementen ins Auge springende neuste Meistwerk gerade neben einem von Turners Schiffsbildern hängt. Turner schaut die beiden Bilder lange an, verschwindet kurz und kommt mit einem Pinsel voll roter Farbe zurück. Er klatscht mitten in sein Bild in die grauen Wellen des Meeres einen roten Pinselstrich und geht wieder. die Kollegen sind verdattert, Constable verlässt gar indigniert den Raum. Da kommt Turner grinsend zurück, wischt die Hälfte des roten Flecks wieder weg und kratzt mit dem Daumennagel in die andere Hälfte eine Kontur. Und schon tanzt auf den Wellen in aller Natürlichkeit eine knallrote Signalboje, als ob sie immer schon da gewesen wäre.

Mike Leighs Mr. Turner ist ein grosses, ausuferndes Kinovergnügen, randvoll mit historischen und kunsthistorischen Aperçus. Kunstsammler und Theoretiker John Ruskin bekommt seinen Seitenhieb genau so wie die aufstrebenden Präraphaeliten. Zudem wird von der neuartigen Daguerrotypie bis zu den Anfängen moderner Physik alles Mögliche kurz angetippt, ironisiert oder auch nicht. Dazu kommt ein ungewöhnlich klagender, eindringlicher Score von Gary Yershon, der mal unbemerkt dann wieder aufdringlich und eindringlich Stimmung verbreitet und vorwegnimmt – ziemlich expressiv und damit ebenfalls wieder näher beim Theater als beim „klassischen“ Kino von Mr. Leigh.

Allenfalls hätte Mike Leigh seine erzählerischen Ambitionen eine Spur zügeln dürfen, um dem Film eine längerfristige geschlossenere Wirkung zu geben.

Aber wer will sich beklagen, wenn da einer wieder einmal alles auf einmal versucht und das meiste davon auch noch grossartig hinbekommt.

Mike Leigh
There can be only one: Mike Leigh

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