Ein kleines Mädchen wird entführt, und acht Jahre später findet sie einen raffinierten Weg, ihren perversen Kerkermeister und seinen Pädophilenring auszutricksen und freizukommen.
Es ist alles da, was die frühen Filme von Atom Egoyan spannend, komplex und vielschichtig gemacht hatte: Langsam aufgedeckte Familientragödien (The Adjuster, 1991), multiple Perspektiven (Family Viewing, 1987) und Obsessionen (Exotica, 1994). Aber etwas fehlt.
Je raffinierter, ausgeklügelter und polierter Egoyans Drehbücher und Inszenierungen werden, desto seelenloser wirken sie. Der Kulminationspunkt liegt bei The Sweet Hereafter von 1997, der die Auswirkungen eines Schulbusunfalls mit vielen toten Kindern auf eine Kleinstadt zeigte.
Es gibt keine einfachen Wahrheiten, und jede Geschichte verändert sich, je nachdem, wer sie erlebt, erzählt oder erzählt bekommt. Das ist die Prämisse, welche fast jeden Egoyan-Film angetrieben hat. Und das Geheimnis hinter der Magie seiner früheren Filme liegt nicht zuletzt darin, dass einem alle Erleberinnen und Erzähler ans Herz wuchsen, dass noch die ‚böseste‘ Figur verständlich wurde im Kontext ihrer eigenen Geschichte.
Darauf hat Egoyan diesmal verzichtet, vielleicht mit gutem Grund. Der Entführer in diesem Film, ein diabolisch multipel Perverser, der nicht nur pädophil ist, sondern auch ein Geschichten-Süchtiger (und damit ein Stellvertreter des Publikums und sein eigener Reality-TV-Impresario) wird von Kevin Durand mit Gusto, Oberlippenbart und meist offenem Mund als Mischung aus Peter Lorre und John Waters gespielt. Das ergibt zwar einen hassenswerten Thriller-Bösewicht, aber definitiv keine nachvollziehbare menschliche Figur.
Vielleicht ist das Absicht, einen Fritzl verstehen zu wollen, oder den Kampusch-Entführer Priklopil, das ist tatsächlich einigermassen aussichtslos. Mit Michael hat der Österreicher Markus Schleinzer 2011 hier in Cannes gezeigt, dass auch die distanzierte Beobachtung des Schrecklichen so etwas wie imaginäre Bilder schaffen kann, die man nicht mehr los wird.
Die dramaturgische Anlage von The Captive hätte jedenfalls mehr Möglichkeiten geboten, als Egoyan nun tatsächlich nutzt. Zentral im Plot ist der Umstand, dass der Entführer überall seine Internet-Augen hat. Dass er die hilflosen Eltern beobachtet und dass er sein Opfer an diesen Beobachtungen teilhaben lässt, sie gar einbindet in perverse Spiele mit der Vergangenheit und dem Schmerz der Eltern.
Damit spielt das Drehbuch ausgesprochen raffiniert. Der Täter, der Polizei und Eltern immer voraus ist, der alles sieht und alles hört, der im Hotel, in dem die Mutter als Zimmermädchen arbeitet, gezielt Objekte liegen lässt, welche an das kleine Mädchen von damals erinnern: Das ist ein grossartiges Gimmick für einen cleveren Thriller.
Und der clevere Thriller ist auch durchaus vorhanden. Mit Rosario Dawson als schöner Polizistin, Ryan Reynolds als überfordertem, aber hartnäckigem Vater und etlichen weiteren Figuren, die ein ganzes Panorama bilden.
Fetischismus und Voyeurismus waren Egoyans bevorzugte Themen in den frühen neunziger Jahren. Damals hat er seine Filme aber wie Versuchsanlagen aufgestellt, man entdeckte als Zuschauer mit dem Regisseur gemeinsam, wie erschreckend und wie faszinierend Menschen funktionieren.
Unterdessen aber scheint Egoyan die Erkenntnisse fixiert zu haben und sie nur noch in immer neuen Varianten durchzuspielen. Ein Beispiel dafür war der eben so clevere wie letztlich sterile Thriller Where the Truth Lies von 2005. Das war eine Geschichte um Mord und Intrigen im Showbusiness, mit Colin Firth und Kevin Bacon schön besetzt und handwerklich erstklassig umgesetzt. Aber da war schon der Titel mit der lügenden bzw. liegenden Wahrheit programmatischer, als für den Film letztlich gut war.
Mit Adoration gelang ihm 2008 noch einmal fast ein ‚alter‘ Egoyan. „Eine Kopfgeburt, aber sehr kinogerecht“ schrieb ich damals hier im Blog, ein wenig wehmütig. Dass gilt auch jetzt wieder. The Captive schlägt die Brücke vom ‚alten‘ zum ’neuen‘ Egoyan. Das ist ein clever konstruierter Thriller mit vielseitiger thematischer Anbindung (und etlichen Verbeugungen vor dem Unterhaltungskino, mit Rosario Dawsons Beinen inszeniert Egoyan gar eine Hommage an Tarantinos Death Proof).
Aber der clevere Thriller entpuppt sich als Schreibtischkonstruktion, mit logischer, aber eher antiklimaktischer Auflösung, und vor allem an der von ihm angedeuteten wirklichen Frage vorbei inszeniert: Was passiert mit Menschen in solchen acht Jahren? Mit dem gefangenen Mädchen? Mit den Eltern? Angedeutet wird etliches. Aber wirklich nachbohren mag der Film nicht. Vor zwanzig Jahren wäre das für Egoyan aber zentral gewesen.