Das 67. Filmfestival von Cannes ist vorbei und der Hauptpreis, die goldene Palme, ging an den uneingeschränkten Favoriten: Winter Sleep.
Drei und eine Viertelstunde lang ist der Film vom türkischen Meisterregisseur Nuri Bilge Ceylan. Und keine einzige dieser 196 Minuten ist überflüssig. In grossartigen Bildern und ausgedehnten, vom russischen Theaterklassiker Anton Tschechow inspirierten Dialogen verhandelt ein ehemaliger Schauspieler und jetziger Dorfkönig in der Felsenlandschaft von Kappadokien das Leben mit seiner Umgebung, seiner schönen jungen Frau und seiner skeptischen Schwester. Seine Welt ist im Umbruch, so wie die aktuelle Türkei. Entsprechend hat der Regisseur seinen Preis in Cannes denn auch jenen Menschen gewidmet, die in den türkischen Protesten des vergangenen Jahres ihr Leben verloren haben.
Aber auch eine zweite Erwartung erfüllte die von der bisher einzigen Palmengewinnerin, der Neuseeländerin Jane Campion (The Piano, 1993) präsidierte und von fünf Frauen gegenüber vier Männern dominierte Jury, indem sie ihren Grand Prix an die 33jährige Italienerin Alice Rohrwacher vergab, für ihren Film Le meraviglie, die Geschichte einer Aussteigerfamilie in Umbrien aus der Sicht der ältesten Tochter. Der Glanz dieses Preises strahlt auch ein bisschen in die Schweiz: Le meraviglie wurde von der Tessiner Firma Amka Films und Radiotelevisione Svizzera koproduziert.
Dass der Brite Timothy Spall für seine grunzende, gruchsende, röchelnde und rundum grossartige Verkörperung des britischen Malers William Turner in Mike Leighs Film Mr. Turner den Darstellerpreis gewinnen würde, war eigentlich klar – auch wenn der Film selber die Kritiker mehr gespalten hat als Mr. Spalls massiver und sehr körperlicher Einsatz.
Julianne Moore als beste Darstellerin für ihre Rolle als von Ehrgeiz und Altersängsten zerfressene Hollywoodschauspielerin in David Cronenbergs Maps to the Stars war allerdings nicht so klar gesetzt. Die meisten Kritikerinnen und Kritiker, insbesondere natürlich die französischen, sind davon ausgegangen, dass niemand anders als Marion Cotillard in Frage käme. Sie spielt im Film Deux jours, une nuit der belgischen Dardenne-Brüder die Arbeiterin Sandra, welche genau ein Wochenende Zeit hat, um ihre Arbeitskollegen zum Verzicht auf ihren Jahresbonus zu bewegen, damit sie ihre Stelle behalten kann. Frankreichs Super- und Glamour-Star in der Rolle einer depressiven Mutter und Arbeiterin, das wirkte auf die meisten Cannes-Pilger unwiderstehlich. Aber offenbar nicht für die fünf Damen in der Jury.
Die restlichen Juryentscheide entsprechen weitgehend den Erwartungen, höchstens die seltsame Aufteilung des kleinen Jurypreises zwischen dem jüngsten Wettbewerbsteilnehmer, dem 25jährigen Kanadier Xavier Dolan und dem ältesten, dem 83jährigen Schweizer Filmeremiten Jean-Luc Godard erscheint ein wenig mutlos. Godard ist denn auch konsequent nicht nur dem Festival ferngeblieben, sondern auch der Preisverleihung.
Dass mein persönlicher Favorit Still the Water von Naomi Kawase völlig leer ausgegangen ist, überrascht mich nicht wirklich. Wer den Film der Japanerin für esoterisch überspannt und gleichzeig leicht kitschig halten möchte, kann dafür durchaus Argumente ins Feld führen. Ich mochte ihn gerade deswegen. Und weil ich bisher alle ihrer Filme mochte. Es gibt eben auch so etwas wie Kritikerloyalität. So lange die nicht in enttäuschte Liebe umschlägt, ist alles gut.