Der Stadtstaat Singapur steckt voller Widersprüche: Ein idealer Ort, um gesellschaftliche und familiäre Werte überraschend auszulegen. Ilo Ilo heisst der Erstlingsfilm von Anthony Chen, dem diese Auffächerung so gut gelingt. Auch als Europäer erkennt man sich in der Geschichte wieder.
«Sie können mich Terry nennen», erklärt die junge Teresa ihrer künftigen Arbeitgeberin in Singapur. Teresa ist eine Philippina. Eine von Tausenden von Frauen, die ihre eigenen Kinder auf den Philippinen zurücklassen müssen, um sich als Haus- und Kindermädchen zu verdingen. In diesem Fall eben in Singapur, bei einem chinesischen Ehepaar. Der Sohn ist im Primarschulalter und den Eltern bereits über den Kopf gewachsen.
Unter sich und mit ihrem Sohn Jialer reden die Eltern Chinesisch, mit Terry dagegen in der Umgangs- und Geschäftssprache Englisch. Sie werde das Zimmer mit dem Jungen teilen, erklärt die Mutter der Angestellten. Der Kleine protestiert heftig. Pro Forma wird dem künftigen Hausmädchen die Wahl zwischen der blauen und der roten Tasse gelassen. Dann meint die Mutter, die blaue sei besser. Die sei aus Plastik und gehe nicht kaputt.
Allein schon die sprachliche Vielfalt macht den Film zu einem vergnüglichen Ausflug der Möglichkeiten: Terry spricht am Telefon mit ihrer Schwester im heimischen Dialekt. Der junge Jialer benutzt einen Mix aus Singpur-Englisch und Chinesisch, je nachdem ob er das Hausmädchen triezen will, sauer ist, oder anhänglich.
Die chinesischen Eltern mögen einem einerseits fremd sein in ihrem Erfolgsstreben, erweisen sich aber andererseits schnell als nicht nur sehr bekannt, sondern fast schon verwandt mit uns: Ihre Probleme sind die gleichen. Wenn der Rektor der Schule anruft, weil Jialer sich wieder einmal ungebührlich benommen hat, überträgt sich der Stress der Mutter auf das mitfühlende Kinopublikum.
Anthony Chen lässt seinen Film 1997 spielen, als die Wirtschaftskrise den Stadtstaat Singapur ähnlich beutelt wie heute Europa. Der von den arbeitenden Eltern vernachlässigte Junge mag der Mittelpunkt des Films sein – das Herz aber ist ganz klar die junge Teresa. Und ihr ist auch der Filmtitel gewidmet, denn Ilo Ilo heisst jene philippinische Provinz, aus der sie kommt.
Teresa, die ausgebeutete, moralisch aber intakte junge Frau in der Fremde, bringt nicht nur dem wilden Jungen bei, was Rücksicht und familiäre Zuneigung bedeutet, sondern auch den Eltern. Auch wenn zunächst zwangsläufig der Punkt kommt, an dem die Mutter eifersüchtig wird: «Warum sind sie so angezogen?», herrscht sie Teresa an, die versucht hat, den Jungen an der Schule vor einer weiteren Strafe zu bewahren. «Sie sind nicht seine Mutter!»
Anthony Chen ist mit Ilo Ilo ein Film gelungen, der gleich dreifach zu Herzen geht. Erstens erzählt er die Geschichte vom ausgebeuteten, moralisch überlegenen Kindermädchen in einem völlig neuen Umfeld. Zweitens schildert er fast beiläufig, wie der Arbeits- und Berufsdruck der Eltern alles unterläuft, was einst ihr Familienideal gewesen sein mag. Drittens erinnert er in aller Selbstverständlichkeit daran, dass gesellschaftlich sanktionierte Ausbeutung überall in der Welt stattfindet.
Dass es Anthony Chen dabei gelingt, das alles in einen Film zu packen, der dokumentarisch wirkt, nie jedoch moralisierend oder gar anklägerisch – das ist nicht nur verblüffend, sondern vor allem herzerweichend wirkungsvoll.