NIFFF 14: BLIND von Eskil Vogt

'Blind': Ellen Dorrit Petersen als Ingrid
‚Blind‘: Ellen Dorrit Petersen als Ingrid

Eine kürzlich erblindete Frau imaginiert sich ihre Welt neu: Gefährlicher, zynischer, erschreckender. Vor allem aber einfach weniger langweilig. Keine schlechte Ausgangslage für einen Film. Und was der Norweger Eskil Vogt daraus gemacht hat, müsste nächsten Samstag mit einem der Preise des NIFFF ausgezeichnet werden. Am besten mit dem Hauptpreis.

Ingrid bewegt sich noch sehr unsicher in ihrer neuen Wohnung im vierten oder fünften Stock. Ihr Mann sagt ihr zwar, die Räume seien sehr hoch und grosszügig, aber sie kann sich das nicht wirklich vorstellen. Dabei ist das fast ihre einzige Beschäftigung seit sie erblindet ist. Sie stellt sich die Orte und Menschen und Dinge vor, die sie früher gesehen hat. Und dann beginnt sie, diese Realität im Kopf zu manipulieren.

Blind Vera Vitali Marius Kolbenstvedt
Vera Vitali und Marius Kolbenstvedt sind die imaginären Elin und Einar

Ingrid erfindet heimlich Parallelfiguren für sich und ihren Mann Morten und sie tippt diese Geschichten um die blonde Elin und den einsamen, pornosüchtigen Einar in ihren Laptop. Allein schon diese imaginierten Charakterisierungen, Filmszenen mit Ingrids Offkommentar als Erzählstimme, sind absolut hinreissend. Sie sind besser inszeniert und fliessender in die Handlung eingebaut als alles, was ich bisher nach diesem Prinzip schon gesehen habe.

Es gibt unzählige Filme, welche die Imagination eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin in Filmszenen umsetzen und die Ebenen durchlässig machen. Simple Komödien wie Le magnifique mit Jean-Paul Belmondo, oder die Romancing the Stone Filme mit Kathleen Turner und Michael Douglas. Oder komplexere Gebilde wie Marc Forsters Stranger Than Fiction von 2006. Aber noch nie habe ich Freiheit und Limiten der Imagination so fliessend in einer Inzenierung gesehen.

Blind Dorrit Petersen Henrik Rafaelsen
Dorrit Petersen Henrik Rafaelsen (Morten)

Wenn Ingrid die zufällige Begegnung ihres Mannes Morten mit ihrer Erfindung Einar imaginiert, sitzen die beiden Männer im Café und tauschen sich über die gemeinsame Studienzeit aus. Morten erklärt dem anderen, er habe Ingrid geheiratet, aber Kinder hätten sie keine, und jetzt sei das gerade auch nicht ganz einfach. Aber ohne Einar zu erzählen, dass Ingrid erblindet ist. Dafür zeigt er ihm seine Sporttasche. Die hat er dabei, weil er ins Kino ging. Alleine ins Fitnesscenter, dass könne er seiner Frau gut erklären. Aber alleine ins Kino, das gehe nicht.

Während die Männer miteinander reden, wechselt der Ort, an dem sie sich befinden. Sitzen sie zunächst im Café am Tisch, befinden sie sich plötzlich im Zug einander gegenüber, oder in der U-Bahn. Morten nimmt einen Schluck Café, aber als er die Tasse wieder auf den Tisch stellen möchte, ist da keiner – für einen Moment – weil er im Zug sitzt. Aber die Bewegung des Arms endet dann doch wieder mit dem Abstellen der Tasse auf dem Kaffeetisch.

Eskil Vogt nutzt die einfachen Möglichkeiten des Kinos mit extremer Eleganz, Ingrids Imagination setzt er sozusagen in Echtzeit um, und dies nicht nur in Szenen, die sie sich vorstellt, sondern auch in ihrem eigenen Erleben.

Blind Szene
Wer garantiert der blinden Frau, dass ihr schönes Wohnzimmer in Wirklichkeit nicht so aussieht?

So wächst in der blinden Frau zunehmend ein Misstrauen gegenber den Aussagen ihres Mannes. Die hohen Räume, die er ihr beschreibt, versucht sie physisch zu ergründen. Sie steht mitten im Zimmer und streckt sich nach der Decke. Ihre Hände in Grossaufnahme bewegen sich nur wenige Millimeter unter der Decke. Aber dann sehen wir die blinde Frau ausgestreckt im Raum stehen, mit mehr als einem Meter Luft über sich. Vorstellung und Realität gehen ineinander über.

Dazu gehört auch die fast zynische Ambivalenz, mit der Ingrid ihre eigenen Ängste und Sehnsüchte in ihre Phantasien einfliessen lässt. Das fängt mit Einars Internetpornos an, geht über in den Sex, den sie schliesslich imaginiert zwischen ihrem Mann Morten und ihrer Fantasiefigur Elin, die sie dann quasi zur Strafe prompt erblinden lässt – und damit noch mehr zum alter Ego macht.

Die Lieblingshorrorvorstellung Ingrids ist die, dass Morten, der die Wohnung am Morgen verlassen hat, um zur Arbeit zu gehen, heimlich wieder zurückgekommen ist und sie beobachtet. Da sitzt er im Sessel und schaut ihr zu, sie holt eine Schallplatte aus dem Gestell und lässt sie neben ihm fallen. Sie tastet danach, er weicht aus. Sie greift direkt in den Sessel – und der ist leer.

Musik spielt immer wieder eine zentrale Rolle, mal aus dem Off, dann wieder in die Handlung integriert, und oft kontrapunktisch eingesetzt zum Trennen oder Verschweissen der Bildebenen. Ein guter Teil der Originalmusik für den Film stammt übrigens von Henk Hofstede, dem Sänger der legendären Nits.

Der raffinierteste und befreiendste Kniff des Films besteht allerdings darin, die Ambivalenz von Angst und Lust perfekt einzubinden. Denn die Horrorvorstellung, das da jemand sitzt und einen beobachtet, dreht sich nicht nur im Kino um die Leinwand als Achse. Auch zu Ingrids Vorstellung gehört die Lust am Gesehen werden, gerade und vor allem von ihrem Mann, der in seiner unendlich geduldigen Rücksichtnahme zum Langweiler geworden ist.

Und die Freiheit, welche die blinde Frau schliesslich findet, die Freiheit, alles zu imaginieren, sich selbst lustvoll masturbierend am Boden vor Morten, die Bestrafung der imaginierten Nebenbuhlerin mit allen Missgeschicken, die einer blinden Frau eben passieren können – und dann die Möglichkeit, das alles auch wieder zurückzunehmen, das ist die Freiheit des Kinos, welche dieser Film perfekter, subtiler und fantastischer umsetzt, als es die hochgerüstetste Special-Effects-Orgie je könnte.

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