Locarno 14: CURE – THE LIFE OF ANOTHER von Andrea Štaka

Sylvie Marinkovic, Lucija Radulovic © oko film
Sylvie Marinkovic, Lucija Radulovic © oko film

„Das Leben einer Anderen“ kündigt der Filmtitel an, und schon dieses Bild hat mehr als zwei Seiten. Für den Teenager Linda, die im Sommer 1993 mit ihrem Vater aus Zürich nach Dubrovnik in dessen kroatische Heimat gekommen ist, könnte die Kur, die Heilung, darin bestehen, dass sie ihre kroatischen Wurzeln findet.

Aber Linda und ihre neue kroatische Freundin Eta sind selber „cure“- „Mädchen“ – auf Kroatisch. und schliesslich wird Linda sogar Eta sein, zumindest für deren Grossmutter, nach Etas Tod. Und den wiederum hat, vielleicht, Linda verschuldet.

Acht Jahre nachdem Andrea Štaka hier in Locarno mit Das Fräulein den goldenen Leoparden gewonnen hat, webt sie nun weiter an ihrem immer auch autobiografisch geprägten ureigenen Film-Stoff. Die Geschichte von Cure hat nichts mit Das Fräulein zu tun und nimmt doch überall die Fäden wieder auf.

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Štakas eigener Vater stammt aus Dubrovnik; der Blick auf die Stadt vom Berg herab gleicht jenem auf Zürich in Das Fräulein und der wiederum war vom Blick auf Sarajevo geprägt. Mirjana Karanovic, welche damals das titelgebende Fräulein, eine Exil-Serbin in Zürich, spielte, ist dieses Mal die Grossmutter von Eta. Und Marija Skaricic, die junge Frau aus dem letzten Film, ist die Mutter.

Und schliesslich sieht die junge Hauptdarstellerin Sylvie Marinkovic aus, wie man sich Andrea Staka in ihrem Alter vorstellen würde. Auf dem zur Produktion veröffentlichten Pressebild trägt Andrea Štaka sogar die Ohrringe, welche sich Linda und Eta im Film teilen.

Sylvie Marinkovic, Andrea Staka © oko film
Sylvie Marinkovic, Andrea Štaka © oko film

Das alles sind Binnenspuren, Goldfäden, welche die Regisseurin selber in ihre Arbeit flicht, und damit vielleicht auch uns allzu eifrige Beobachter in ihr ganz eigenes Spinnennetz holt. Aber diese Detailarbeit ist es letztlich, welche Cure zu einem faszinierenden filmischen Kunst-Stück macht.

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Eigentlich spinnt Štaka bloss eine kleine Geschichte aus, welche man sich in Dubrovnik angeblich erzählt. Jene der beiden Mädchen, die gemeinsam einen Spaziergang machten, von dem nur eine wieder zurück kehrte. Die Filmgeschichte hat damit schon hin und wieder gespielt, und Andrea Štaka baut das Echo von Filmen wie Picnic at Hanging Rock oder Vertigo mit leichter Hand schwebend ein.

Das Mädchen aus Zürich bekommt in Dubrovnik schneller und radikaler eine lokale Identität, als sie es sich je hätte träumen lassen. Nach einem wilden Rennen durch angeblich minenverseuchtes Hügelgelände stehen sie und Eta am Abhang über den Klippen, ein kleiner Streit über das behauptete Ausmass sexueller Erfahrungen führt zu gegenseitigem Schubsen. Und dann ist nur noch ein Mädchen da.

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Wobei: Eta bleibt bei Linda. Immer wieder spricht sie sie direkt an, verlangt von ihr, dass sie ihr ihr Tagebuch zurückgebe, bevor es die Grossmutter findet, fordert sie heraus, erinnert sie daran, dass sie eigentlich gehofft hatte, mit Lindas Hilfe endlich aus Dubrovnik fortzukommen.

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Und wenn die Grossmutter, welche schon ihren Sohn im Krieg verloren hat, Linda einfach als Eta behandelt, dann wird nie ganz klar, ob bewusst und zur Strafe, oder unbewusst und aus Selbstschutz. Das ist nie gespenstisch, oder fiebrig, oder auch nur erschreckend wie in vergleichbaren coming-of-age- und Identitätsentwicklungsfilmen, sondern mit einer grossartigen Selbstverständlichkeit inszeniert.

Alles ist wahr und alles ist auch anders und richtig und falsch zugleich für Linda, es gibt den Bosnien-Krieg, wenige Kilometer weiter hinter der kroatischen Grenze, es gibt Ivo, den jungen Mann, auf den Eta sauer war und von dem sie träumte, der angeblich im Krieg getötet hatte und der nun auch Linda herausfordert.

Die Schnitte sind mitunter ganz hart und sie werden akzentuiert durch einen grossartigen Soundtrack, der Musik und melodiös-perkussive Elemente schichtet, den Ton mit dem gefilmten Kippen eines Lichtschalters stoppt und so mit dem Licht im Bild auch den Klang im Raum kippen lässt.

Wenn Linda Etas Mutter an deren Arbeitsplatz aufsucht, stolpert sie über eine Katze. Das wissen wir nur, weil ihr Oberkörper im Bild kurz schwankt und weil auf der Tonspur eine Katze jault.

Es gibt Einstellungen im Film, die sich in Varianten wiederholen. Recht früh sehen wir im Vordergrund den Spitalkomplex, in dem Lindas Vater arbeitet, vor dem markanten Burghügel. Später folgt dann die gleiche Einstellung mit Linda, welche eine grosse Rampe hinunter geht. Und erst jetzt wissen wir, wo das ist.

Orte können ihre Bedeutung wechseln in diesem Film, manchmal so simpel wie eben beschrieben, manchmal märchenhaft verspielt, zum Beispiel wenn Linda in Etas Kleiderschrank eine Tür findet, die nicht etwa in ein Geheimversteck führt, sondern direkt ins Zimmer der Mutter.

Lucija Radulovic, Mirjana Karanovic
Lucija Radulovic, Mirjana Karanovic © oko film

Es gibt Blickwechsel und Grossaufnahmen von Gesichtern mit kaum wahrnehmbarem Lächeln, und es gibt diese Szenen vor dem Fernseher in denen Linda die Rolle von Eta übernimmt und der Grossmutter die Untertitel vorliest. Bis Eta plötzlich auch auf dem Sofa sitzt und beide Mädchen im Chor vorlesen.

Cure: The Life of Another ist kunstfertig natürlich, raffiniert stilisiert und geschichtet und gleichzeitig bestechend einfach aufgebaut. Man erkennt die sorgfältig Arbeit auf jeder Ebene, vom Buch, an dem auch Andrea Štakas Lebens- und Produktionspartner Thomas Imbach mitgeschrieben hat, und wiederum auch die Österreicherin Marie Kreutzer, die schon beim Fräulein dabei war, bis zu allen anderen Departementen. Absolut herausragend sind Musik und Sound-Design und deren Einsatz, aber auch sonst gibt es im ganzen Film keinen falschen Ton, kein flaches Bild, keinen unnötigen, unverwebten Moment.

(67. Filmfestival Locarno, Concorso internazionale)

Andrea Staka
Andrea Štaka

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