Um Land und Leute Chinas wirklich kennen zu lernen, so steht es in einem Reiseführer, müsse man in dem riesigen Land eine längere Zugreise unternehmen.
Der US-amerikanische Regisseur J.P. Sniadecki hat mehrere solcher Fahrten gemacht, ist während dreier Jahre mit der Eisenbahn kreuz und quer durch China gereist, die Kamera immer mit dabei. Und so kann das Publikum, das sich hier in Locarno den Wettbewerb anschaut, wenigstens für knappe eineinhalb Stunden mitfahren. Es ist erstaunlich, wie viel man in diesem Mikrokosmos der Eisenbahn über das grosse Land erfährt.
Mit seiner Kamera ist Sniadecki durch die Züge gegangen, hat Zwischengänge, Abteile, vorbeifliegende Landschaften gefilmt, hat den Mann mit dem Imbisswagen begleitet, den Leuten beim Gepäck verstauen zugeschaut (in diesen übervollen Zügen immer wieder eine logistische Meisterleistung).
Und er hat sich unterhalten mit den Passagieren, hat sich für kurze Zeit an ihren Gesprächen beteiligt, Fragen gestellt und zugehört. Zum Beispiel der zufällig beim Rauchen im Zwischengang zusammen gekommenen Gruppe – einer von ihnen ist Moslem und fährt für ein Fest nach Hause. Ein anderer fragt neugierig nach. Ob er denn jetzt, wo er in der Ferne arbeite, seinen Glauben behalten habe. Und er bemerkt dann, dass es ja eigentlich egal sei, welche Religionen die Leute hätten. Denn in China gäbe es sicher nie einen Krieg wie im Mittleren Osten.
Ein anderer junger Mann erklärt seinen Freunden, warum die Schwiegermütter an Chinas Bauboom Schuld seien. Und ein kleiner Junge präsentiert in einer selber erfundenen Zugansage seine ganz eigene Lösung für die Überbevölkerung.
Solche Gespräche, an denen sich ab und zu der Regisseur mit beteiligt, sind immer nur fragmentarisch, irgendwann schwenkt die Kamera wieder weg, angezogen von etwas Neuem, etwa dem Besen, der den Abfall im Waggon zusammenkehrt. Oder den Frauen, die grosse Mengen von frischem Fleisch sortieren, zurechtschneiden, aufhängen – wahrscheinlich, um es für den Markt in der nächsten Stadt vorzubereiten.
Sniadecki hat viele Jahre in China gelebt und gearbeitet, die meisten seiner Filme sind dort entstanden. Das merkt man The Iron Ministry an. Stilistisch und formal ähnelt der Film stark die Werke aus der unabhängigen Dokumentarfilmszene aus China. Nur Kameraton, harte Schnitte, eine Montage, die zwischen Zugwagen, Zügen, Regionen und Zeiten hin- und herspringt und dies aber nie deklariert. Das macht aus diesem Film eine einzige und einzigartige Reise, die irgendwo im Dunkel beginnt (man hört zu Beginn bei schwarzer Leinwand einige Minuten nur die Fahrtgeräusche) und dort auch wieder ausblendet.
Dazwischen ist China – im vollgestopften Drittklassewagen, im Schlafzug, im edlen Ersteklasseabteil, auf den Zuggängen. Nur einmal, in einem Speisewagen (vermutlich für Kader) darf Sniadecki nichts zeigen. Wir haben trotzdem viel gesehen in diesem eisernen Ministerium, dem Iron Ministry.
Sniadecki gehört übrigens zum Sensory Ethnography Lab von Lucien Castaing-Taylor und der in Neuchâtel geborenen Véréna Paravel, die uns vor zwei Jahren hier in Locarno mit dem noch radikaleren, aber deutlich verwandten Dokumentarmonster Leviathan begeistert haben.
(67. Filmfestival Locarno, Concorso internazionale)